Maximalforderungen zu stellen, kann ein kluger Schachzug sein – oder das Gegenüber derart verprellen, dass der Gesprächsfaden abreißt. Letzteres könnte Bettina Stark-Watzinger bewirkt haben, als sie vergangene Woche die Eckpunkte für das Startchancen-Programm vorstellte. Ihre Verhandlungspartner in den Ländern bezeichnen das BMBF nun als “Elefant im Porzellanladen” oder erteilen eine Generalabsage an die Kofinanzierung, wie Holger Schleper berichtet.
2,64 Millionen junge Menschen sind ohne Berufsbildung. Diese ernüchternde Zahl wird die Bundesregierung heute in ihrem Berufsbildungsbericht veröffentlichen. Aber im Feld der Beruflichen Bildung gibt es auch gute Nachrichten. So erfreut sich die schulische Berufsbildung immer größerer Beliebtheit. Anna Parrisius erklärt, was die Attraktivität dieses Weges für die aktuelle Generation ausmacht.
In der Bildungspolitik gibt es einen Akteur, der auf vielen Ebenen mitmischt: die Stiftungen. Eine jüngere, oft übersehene ist die Wübben Stiftung. Nun wird sie zehn Jahre alt und blickt auf einige Erfolge. Denn sie schafft es, banale Ideen effektiv umzusetzen – und kommt damit in Verwaltungen und Ministerien an. Die Methode Wübben beleuchten Vera Kraft und Moritz Baumann.
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Die Stimmung zwischen Bund und Ländern ist frostig, nachdem die FAZ und Table.Media vergangene Woche das BMBF-Eckpunktepapier zum Startchancen-Programm öffentlich gemacht haben. Eines der zentralen Vorhaben im Haus von Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) droht ins Stocken zu geraten. Mit dem milliardenschweren Startchancen-Programm sollen über zehn Jahre lang bundesweit 4.000 Brennpunktschulen gefördert werden.
“Mit seinem einseitigen Vorpreschen verhält sich das BMBF wie ein Elefant im Porzellanladen”, teilt ein Sprecher des sächsischen Kultusministeriums mit. ”Mit der Vorlage hat der Bund ohne Vorankündigung den gemeinsamen Verhandlungsweg verlassen.”
Woran entzündet sich die harsche Kritik, die auch in anderen Ländern deutlich vernehmbar ist? Ein Überblick:
Im März hatten sich die Länder nach intensiven Beratungen auf einen Kompromiss beim Finanzierungsmechanismus geeinigt. Nur sehr zaghaft wollte die KMK vom Königsteiner Schlüssel abrücken – Länder wie Sachsen und Bayern blockierten eine Verteilung nach sozio-ökonomischen Kriterien. Mit dem Beschluss ”waren klare inhaltliche und verfahrensmäßige Eckpunkte benannt, auf die das BMBF bisher nicht reagiert hat”, heißt es aus Sachsen. ”Und auch die Ergebnisse der drei gemeinsam von Bund und Ländern konzipierten Fach-Workshops werden schlichtweg ignoriert.”
Karin Prien (CDU), Bildungsministerin von Schleswig-Holstein, argumentiert ebenfalls in diese Richtung: “Ich hätte mir gewünscht, dass vonseiten des Bundes deutlicher herausgestellt wird, dass die wissenschaftlichen Erfahrungen, das Know-how für die Ausrichtung des Programms, aus den Ländern stammt”, sagt sie im Gespräch mit Table.Media.
Das BMBF will jährlich bis zu einer Milliarde Euro investieren - verknüpft mit der Forderung, dass sich die Länder ebenfalls mit einer Milliarde Euro pro Jahr beteiligen. Die Reaktionen waren erwartbar: “Die Vorschläge des BMBF sind bisher so wenig konkret ausgestaltet, als dass ernsthaft die Bereitstellung von Landesmitteln geprüft werden könnte”, heißt es aus Sachsen. Prien wird noch deutlicher: “Eine Kofinanzierung von 50 Prozent durch die Länder kommt unter keinen Umständen in Betracht. Sie finanzieren schon jetzt 90 Prozent der Bildung.”
Die Länder wollen erreichen, dass der Bund laufende Programme anrechnet – auch wenn sie nicht perfekt in die Drei-Säulen-Schablone des Startchancen-Programms passen. Schleswig-Holstein befürchtet beispielsweise beim erfolgreichen Perspektivschul-Programm kürzen zu müssen, um das Bundesvorhaben zu finanzieren. Das Programm für Schulen in sozialen Brennpunkten läuft noch bis 2024 und ist mit 50,3 Millionen Euro ausgestattet.
95 Prozent nach dem Königssteiner Schlüssel, fünf Prozent nach einem Sozialindex – darauf hatten sich die Länder im März verständigt. Im BMBF-Papier ist davon keine Rede mehr. Das Ministerium wagt den großen Gegenentwurf und ersetzt den Königssteiner Schlüssel durch einen Verteilmechanismus, der auf einem Sozialindex basiert. Der Anteil an Kindern im SGB-II-Bezug oder mit Migrationshintergrund soll ein wesentliches Kriterium sein.
“Es wäre schön gewesen, hier Berechnungsmodelle zu sehen”, sagt Prien. Das vom BMBF vorgeschlagene Finanzierungsmodell könnte dazu führen, dass Sachsen - und auch Bayern - fast leer ausgehen. Stark-Watzinger hat bislang jedoch keine Tabellen vorgelegt, wie viele Millionen Euro in welches Land gehen.
Das sächsische Kultusministerium will den BMBF-Vorschlag so nicht mittragen: “Eine Beschränkung auf die beiden Kriterien Sozialhilfebezug und Migrationshintergrund ist für Sachsen in jedem Fall nicht akzeptabel.” Soziale Benachteiligung in den ostdeutschen Ländern sei auch bedingt durch demografische Faktoren und den Strukturwandel. “Belastend sind zudem Nachwirkungen von Transformationsprozessen”, heißt es.
Das Startchancen-Programm gliedert sich in drei Säulen: Ein Investitionsprogramm für bauliche Maßnahmen, ein Schulbudget zur Stärkung der schulischen Autonomie sowie ein Budget für Schulsozialarbeit. Prien sieht unter anderem das Schulbudget kritisch: Hier sieht das BMBF 300 Millionen Euro ab 2025 vor, was umgerechnet etwa 75.000 Euro für jede der 4000 Startchancen-Schulen sind. “Das ist unterdimensioniert. So schafft man keinen Turnaround”, kritisiert Prien und stützt sich wieder auf das Perspektivschul-Programm. “In Schleswig-Holstein erhalten Schulen mit den größten Bedarfen 400.000 Euro. Und dieses Geld brauchen sie auch.”
Bayern und Hessen wollten sich auf Nachfrage von Table.Media nicht äußern. Man müsse das Papier aus Berlin erstmal intern prüfen, heißt es. Der bayerische Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) hat sich in den vergangenen Monaten wiederholt geweigert, gegenüber Table.Media ausführlich zum Startchancen-Programm Stellung zu nehmen, während sein Land hinter verschlossenen Türen gerade die Abkehr vom Königsteiner Schlüssel blockiert.
Mit ihrem Papier hat Stark-Watzinger die Länder auf offener Bühne in die Enge getrieben. Ihre Strategie ist der Kollisionskurs, weil sie überzeugt ist, die besseren Ideen für das Startchancen-Programm zu haben. Bis zur parlamentarischen Sommerpause will sie sich mit den Ländern einigen. Prien plädiert daher für einen neuen Arbeitsmodus: “Wir können nicht bis Ende Mai warten, um weiterzuverhandeln. Wir müssen Gas geben und benötigen jetzt wöchentliche Sitzungen.” Das wäre ein neues Tempo. Bis die offiziellen Verhandlungen am Dienstag starteten, hat es 17 Monate Vorbereitung bedurft.
Geht es nach Dieter Dohmen, kann es nicht mehr nur heißen: Viele studieren heute lieber, als eine duale Ausbildung zu machen. Für den Direktor des Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS) zeichnet sich für die betriebliche Ausbildung ein anderer, an Bedeutung gewinnender Konkurrent ab: die schulische Ausbildung. Auszubildende lernen dabei primär an einer Berufsfachschule, meist mit Praxisphasen. Die Ausbildungsplätze richten die Bundesländer ein.
Grundlage für Dohmen ist die Länderauswertung des “Monitor Ausbildungschancen” im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung (zum Download). Für die Studie hat der Bildungsökonom berechnet, wie viele Schulabgänger eines Jahrgangs eine betriebliche Ausbildung oder eine schulische Ausbildung beginnen. Dabei zeigt sich: Der Rückgang der Ausbildungsverhältnisse zwischen 2011 und 2021 betrifft vor allem die duale Ausbildung. In allen Bundesländern ging sie zurück, bundesweit um fast 18 Prozent. Der Anteil schulischer Berufsausbildungen ist hingegen in elf Bundesländern gestiegen.
“Insbesondere bei Jugendlichen mit Mittlerem Schulabschluss gewinnt die schulische Ausbildung”, sagt Dohmen. “In vielen Bundesländern konnte das den Rückgang der dualen Ausbildungsverhältnisse etwas ausgleichen, vereinzelt sogar kompensieren.” Zugutekommt der Azubi-Zuwachs an den Berufsfachschulen vor allem Pflege- und Erziehungsberufen, die den Großteil der schulischen Ausbildungen ausmachen. Angesichts des Fachkräftemangels in Pflege und Kitas eine gute Nachricht – aber auch keine Überraschung, da viele Bundesländer die Plätze in diesen Berufen ausgebaut haben.

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Die guten Beschäftigungschancen und eine gesteigerte Attraktivität durch bessere Entlohnung und Arbeitsbedingungen könnten zu diesen Berufen motivieren, meint Bernd Fitzenberger, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Der Anteil der Frauen ist in den Ausbildungen in Gesundheits-, Erziehungs- und Sozialberufen besonders hoch. Laut Bundesinstitut für Berufsbildung lag er 2021 bei 76 Prozent. “Männer dominieren hingegen in der dualen Ausbildung – vor allem im Handwerk”, sagt Bernd Fitzenberger.
Für Fitzenberger ist deshalb auch keine Konkurrenz zwischen schulischen und betrieblichen Ausbildungen zu erkennen. “Die Adressaten einer Handwerkslehre und einer Pflegeausbildung unterscheiden sich stark.” Nur für wenige Berufe gebe es zudem sowohl vollzeitschulische als auch duale Ausbildungen – auch das erschwere die Gegenüberstellung.
Dieter Dohmen sieht es anders. “Für bestimmte Gruppen sind schulische Ausbildungen attraktiver”, sagt er. Neben Frauen ziehe die schulische Ausbildung auch eher Jugendliche an, denen das Bewerbungsverfahren bei einem Betrieb zu intransparent oder kompliziert erscheint. Das bestätigt Petra Madyda, Direktorin der Stiftung Lette-Verein, die ein Berufsbildungszentrum in Berlin trägt – dem einzigen Bundesland, in dem die schulische Ausbildung inzwischen mit 51,6 Prozent der Azubis sogar größer ist als die duale Ausbildung.
Dass man sich für eine schulische Ausbildung einfach anmelden kann und angenommen wird, sähen gerade unsichere Jugendliche als Vorteil. “Insgesamt stellen wir fest, dass junge Menschen heute nicht mehr so selbstsicher und belastbar sind, die Pandemie hat das verstärkt.” Damit einher gehe bei den Jugendlichen oft die Überzeugung, die Anforderungen der Unternehmen nicht erfüllen zu können. “Die Schule kennen sie. Hier betreuen und fördern Sozialarbeiter und Lehrkräfte sie individuell, das spricht sich rum.”
Nach Madydas Beobachtung wollten viele Jugendliche sich heute zudem nicht mehr auf eine mehrjährige Ausbildung festlegen. Die Stiftung Lette-Verein hat daher eine ihrer schulischen Ausbildung so verändert, dass die Jugendlichen sie nach je einem Jahr schon mit einem Abschluss verlassen können. Auch die Inhalte hätten sie an der Schule den Interessen der Azubis angepasst – häufig junge Menschen, die in der Schule bisher nicht zurechtkamen.
“Diese Flexibilität haben insbesondere Schulen. Aber auch Betriebe sollten flexibler werden. Sie müssen akzeptieren, dass die neue Generation anders tickt und etwa immer einen Sinn im Ausbildungsinhalt sehen will”, sagt Madyda. Unternehmen sollten Strukturen schaffen und Geld in die Hand nehmen, um auch Jugendliche in Ausbildung aufzunehmen, die noch Begleitung und Unterstützung benötigen.
Auch Dieter Dohmen findet: Ausbildungsbetriebe, die sich schwertun, Azubis zu finden, sollten Lehren daraus ziehen. Sie müssen analysieren, was schulische Ausbildungen ihnen voraushaben. Vor allem kleine Betriebe bräuchten professionelle Unterstützung beim Ausbildungsmarketing, bei der Identifikation und Ansprache möglicher Azubis, aber auch dabei, Kompetenzen der jungen Menschen zu erkennen.
Besonders im Blick hat Dohmen dabei auch Jugendliche mit Migrationshintergrund. “Die Eltern kennen aus ihren Herkunftsländern als qualitativ hochwertige Ausbildung vor allem die schulische – weil praktische Ausbildungen in ihren Herkunftsländern kaum eine Rolle spielen oder in der informellen Wirtschaft angesiedelt sind.”
Direktorin Petra Madyda sagt: “Eine gute Berufsorientierung, auch mit Ansprache der Eltern, ist hier besonders wichtig.” Die Stiftung Lette-Verein richtete 2015/16 eine Willkommensklasse für geflüchtete Frauen aus Syrien, dem Irak, Iran und Afghanistan ein. Sprachkurse und die Integration seien gut gelaufen. Grandios gescheitert sei jedoch der Plan, die Frauen in eine Ausbildung zur Hauswirtschafterin, heute Assistentin für Ernährung und Versorgung, zu übernehmen.
“Aus den Familien hieß es: Du machst doch keine Ausbildung, um Kochen, Nähen und Putzen zu lernen, das kannst du doch bereits”, berichtet Madyda. Duale Dienstleistungsberufe, die in den Herkunftsländern Anlernberufe sind, waren schlecht angesehen, so Madydas Erfahrung. Stattdessen sollte es, wenn schon kein Medizinstudium, dann zumindest eine schulische Ausbildung etwa zur pharmazeutisch-kaufmännischen Assistentin sein – “Hauptsache etwas im weißen Kittel”.
Wer das träge Bildungssystem verändern möchte, braucht nicht unbedingt innovative Ideen. Wichtiger sind ein langer Atem, etwas Fingerspitzengefühl und möglichst maßgeschneiderte Lösungen. Das ist zumindest der Ansatz der Wübben Stiftung Bildung. Vor zehn Jahren wurde die Stiftung gegründet mit dem Ziel, die Chancen benachteiligter Kinder zu verbessern. Der Fokus liegt auf Brennpunktschulen. Die Stiftung bietet jedoch keine Nachhilfe oder Verhaltenstrainings an – vielmehr geht es um “systemische” Veränderung.
Dabei ist der Tanz der Bildungsstiftungen mit der Politik speziell. In vielen Verwaltungen fremdeln die Beamten mit den innovationsgierigen Ideen von ‘Senior Projektmanagern’ und ‘Education Analysts’. Doch der Blick auf die Stiftungsarbeit verändert sich. “Vor zehn Jahren”, erzählt Dirk Zorn, Direktor Education und Next Generation bei der Bertelsmann Stiftung, “waren die Gespräche zwischen Stiftungen und der KMK gelegentlich konfrontativ, heute sind sie sehr viel konstruktiver.”
Diesen neuen Modus der Zusammenarbeit, den Zorn als “ko-konstruktiv” bezeichnet, habe die Wübben Stiftung maßgeblich mitgeprägt. Statt den Ministerien wie ein Lieferdienst fertig evaluierte Projektpakete vor die Tür zu legen, will die Wübben Stiftung die Kreativität in der Verwaltung entfachen und sie ermutigen, Dinge auszuprobieren – auch auf die Gefahr hin zu scheitern.
“Wir wollen der Verwaltung nicht ihre Aufgaben abnehmen. Wir sind ja kein Dienstleister”, sagt Markus Warnke, der diesen Stil geprägt hat. Er ist seit der Gründung 2013 Geschäftsführer der Wübben Stiftung, arbeitete zuvor selbst als Jurist fünf Jahre im Familienministerium in NRW. Der Binnenblick hilft ihm. “Viele Stiftungen kommen oft mit ganz großen Visionen. Alles muss besser werden”, erzählt er. “Natürlich verschreckt das die Ministerien, deren Mitarbeiter eben nicht am Reißbrett sitzen und Schule einfach mal neu denken können.”
Die Wübben Stiftung analysiert zunächst das komplexe Geflecht von Akteuren – von den Schulträgern, über die Bezirksregierungen bis hin zu den Landesinstituten. Bis eine Kooperation steht, kann schon einmal bis zu einem Jahr vergehen.
Schneller ging es in Schleswig-Holstein. Dort arbeitet das Bildungsministerium beim Programm Perspektivschulen mit der Wübben Stiftung zusammen. Eine “Erfolgsgeschichte”, berichtet Referatsleiter Hans Stäcker im Gespräch mit Table.Media. “Der Stiftung ist es gelungen, einen Fundus von exzellenten Mitarbeitern zu generieren, die mit Offenheit an die Verwaltung herangehen und Verständnis haben für die politischen Zwänge in einem Ministerium”, so Stäcker. “Es gibt Stiftungen, die wollen einfach überstülpen. Sie sind sehr beseelt von ihren eigenen Ideen. Das erlebe ich bei Wübben nicht. Wir sind auf der gleichen Wellenlänge.”
Während die Bertelsmann Stiftung die Bildungspolitik mit Studien medial treibt und sich die Telekom Stiftung mit Thomas de Maizière einen profilierten Ex-Minister in den Vorstand geholt hat, treten Warnke und sein Team leiser, viele Jahre kaum wahrnehmbar auf. Am Donnerstag aber, zum zehnjährigen Jubiläum, will es auch die Wübben Stiftung knallen lassen. Zum Festakt in Berlin kommen unter anderem NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU), Staatssekretär Jens Brandenburg (FDP) und Dorit Stenke, Staatssekretärin im schleswig-holsteinischen Bildungsministerium.
Geldgeber ist Walter Wübben, der sein Vermögen mit dem Aufbau und Verkauf eines Klinikkonzerns, großen Immobilienprojekten und weiteren Firmenbeteiligungen verdient hat. Vor zehn Jahren stattete er die Wübben Stiftung mit einem Startkapital von 50 Millionen Euro aus und schießt seitdem immer wieder Geld nach. “Wir sind in der komfortablen Situation, dass wir die Mittel bekommen, die wir für unsere Arbeit benötigen”, sagt Geschäftsführer Warnke. Rund fünf Millionen Euro gibt die Düsseldorfer Stiftung durchschnittlich pro Jahr aus.
Das 22-köpfige Team will “laut sein für die Leisen”, ohne dabei unmittelbar mit den Kindern zu arbeiten. Sie stärken das System drumherum: die Schulen. Mit den in NRW entwickelten Familiengrundschulzentren holt das Wübben-Team die Eltern mit in die Schule, das Programm Impakt-Schulleitung stärkt Schulleiter in ihrer Rolle als Führungskräfte und Innovatoren vor Ort. Beide Projekte sind keine Raketenwissenschaft und doch klaffte hier in NRW und anderen Bundesländern eine Leerstelle. Die Grundidee sei maximal banal, aber wirkungsvoll, sagt Warnke.
Die Stadt Gelsenkirchen hat die Idee der Familienzentren 2014 erstmals formuliert, mithilfe der Wübben Stiftung wurde das Projekt ein Jahr später Realität. Rüdiger Schrade-Tönnißen baute 2015 eines dieser Familienzentren auf, in Gelsenkirchen, wo er seit neun Jahren Schulleiter ist. Natürlich sei es “im Bildungsauftrag jeder Schule verankert”, Kindern zu gelingenden Übergängen von der Grundschule zu den weiterführenden Schulen zu verhelfen und ihnen faire Chancen unabhängig vom Elternhaus zu bieten, sagt Schrade-Tönnißen. 2014 sei die Schule dennoch an einem Punkt gewesen, wo die Zusammenarbeit mit den Eltern stockte und die Ressourcen für eine intensivere Betreuung mancher Kinder fehlte. “Da kam die Idee mit dem Familienzentrum gerade recht.”
Es sei ein langwieriger Prozess gewesen, herauszufinden, wie das Familienzentrum gestaltet werden soll, damit es der Schule und den Schülern wirklich etwas bringt. Diese Überlegungen habe die Wübben Stiftung eng begleitet, sagt Schrade-Tönnißen. Einerseits habe es Möglichkeiten zum Austausch gegeben, andererseits wurde kontrolliert, welche Fortschritte erzielt wurden. “Die Stiftung war von Anfang an sehr darauf bedacht, das Projekt zum Erfolg zu bringen.”
Das zeigte sich auch in der politischen Arbeit der Stiftung. Bereits parallel zum Aufbau der ersten Familienzentren in NRW hat die Stiftung dafür geworben, dass das Projekt verstetigt wird. Zuerst weitete das Bildungsministerium das Konzept auf weitere Schulen aus, dann begann die Debatte um eine dauerhafte Finanzierung. Am Ende schafften es die Familiengrundschulzentren 2022 in den Koalitionsvertrag der schwarz-grünen Regierung. Sachsen möchte zum Schuljahr 2023/2024 ein ähnliches Konzept an einigen Grund- und Förderschulen etablieren.
Auch beim Schulleitungsprogramm ziehen andere Bundesländer nach. Schleswig-Holstein hat Teile des Curriculums für seine Perspektivschulen übernommen. Die Stiftung sei bereit, die eigenen Programme aufzuschnüren und den Strukturen im jeweiligen Bundesland anzupassen. Kein Lieferdienst eben. “Diese Offenheit empfand ich als sehr positiv”, berichtet Referatsleiter Stäcker.
Wenn ein Projekt Erfolg hat, beginnt die nächste Phase. “Dann erwarten wir, dass die Verwaltung die Piloten in die Fläche bringt und in ihren Strukturen einarbeitet”, sagt Warnke. Dabei hat der Wunsch, auch in der Breite wirksam zu sein, in den vergangenen Jahren zu einem Wandel in der Stiftungsarbeit geführt. Ein knalliges Corporate Design, die Gründung des Impaktlabs, politische Lobbyarbeit: Immer mehr wird auch die Wübben Stiftung zum Treiber. Sie wird lauter, ungeduldiger und stößt trotz aller Nähe zur Verwaltung an Grenzen.
Wenn man merke, in einer Abteilung werde das Projekt nicht mit der nötigen Priorität behandelt – dann “lassen wir es bleiben”, so der Geschäftsführer. “Wir können keinen zwingen, mit uns zusammenzuarbeiten”, sagt Warnke. “Wollen wir auch nicht.” Und natürlich gebe es eine “klare Rollenverteilung”. “Wir als Stiftung hoffen darauf, Gehör zu finden, aber entschieden wird letztlich im Parlament, der Verwaltung und den Ministerien.” Moritz Baumann und Vera Kraft
Die Gründer der GoStudent-Online-Nachhilfe versuchten es mit Vorwärtsverteidigung. Mit “Exklusiv: GoStudent kündigt bahnbrechende KI-Integration an” war eine Eilmeldung des führenden Anbieters Europas vor wenigen Tagen überschrieben. Schon der zweite Satz, die Prognose nämlich, dass Künstliche Intelligenz ein Markt-Volumen von 20 Milliarden Euro generieren könne, ließe eine Ahnung aufkommen. Der mit insgesamt drei Milliarden Euro bewertete Aufsteiger im europäischen Nachhilfe-Markt hat Angst. Angst, von der neuen Super-Technologie in den Abgrund gerissen zu werden. Und tatsächlich findet sich mitten in der Mitteilung ein Eingeständnis: “Das Unternehmen räumt ein, dass ein KI-Tutor wesentlich kostengünstiger sein könnte.”
Ein ähnlicher Satz hatte das in den USA ansässiges Unternehmen Chegg mit einem Schlag 50 Prozent seines Wertes an der Börse gekostet. “Seit März verfolgen wir einen signifikanten Anstieg des Interesses von Studierenden an ChatGPT”, sagte der Chef des digitalen Lerndienstes für Studierende, Dan Rosensweig. “Wir glauben, dass das einen Einfluss auf unser Kundenwachstum hat.” Die Aktie geriet sofort ins Straucheln. Denn die entscheidende Frage lautet: Wozu braucht es eigentlich Nachhilfedienste, Tutoren und vorgefertigte Studienliteratur, wenn ChatGPT alles aus einer Hand bietet?
An der Börse in den Staaten wurde die Antwort schnell gegeben. Eine ganze Reihe von Bildungsunternehmen verlor deutlich an Wert. Die Welt berichtete von Einbußen um 15 Prozent beim digitalen Test- und Lehrbuchanbieter Pearson. Auch der renommierte Wissenschaftsverlag Wolters Kluwer gab nach. Die Online-Lernplattform Coursera büßte einige Prozent an Wert ein. Nach unten zog es auch Udemi, einen Online-Marktplatz für Lernen und Lehren. Verluste gab es beim Sprachlernprogramm Duolingo sowie bei 2U und Stride, einem US-Bildungsunternehmen, das sich auf Online-Lernlösungen für Schüler spezialisiert hat.

GoStudent reagierte blitzschnell auf diesen Abschwung. “In erster Linie werden wir KI nutzen, um die Erfahrung von Schüler*innen und Tutor*innen weiter zu verbessern”, sagte CEO Felix Ohswald. Und wurde nicht müde, das Credo maßgeschneiderter Unterrichtsstunden und Lernumgebungen zu beschwören. Ohswald berichtete Table.Media, dass GoStudent ChatGPT bereits in einigen Anwendungen integriert habe. Etwa, um Schülern automatisiert Hinweise auf ihre Beiträge zu geben. Zudem wolle das Unternehmen die Schüler-Daten aus den Online-Sitzungen von GoStudent nutzen, um eine KI zu trainieren.
“Wir sehen uns mit diesem Datenschatz in der Pole-Position bei der Entwicklung einer pädagogischen Künstlichen Intelligenz”, sagte GoStudent-CEO Ohswald. Es werde noch entschieden, ob dies mit Hilfe von open-source-KI-Ressourcen geschehe oder mit kommerziellen KI-Sprachmodellen wie ChatGPT. “Auf welche Variante wir uns dann fixieren, werden die Use-Cases zeigen”, schätzte der junge Gründer.
GoStudent war erst vor kurzem in ganz Europa auf Einkaufstour gegangen in einer Branche, die nun akut von der neuen, niedrigschwelligen KI bedroht wird. “Langfristig will GoStudent den idealen KI-Tutor entwickeln, der auf der Grundlage der Erfahrungen der mehr als 11 Millionen Familien (…) geschult ist.” Mit langfristig sei nicht gemeint, so Ohswald im Gespräch mit Table.Media, “dass das zehn Jahre dauert. Wir sprechen von ein oder zwei Jahren.”
GoStudent war eines der ersten Nachhilfe-Unternehmen, das offensiv mit dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz geworben hatte. Das Ganze ist keine drei Jahre her und betraf einen speziellen Teil im 1:1-Tutor-Geschäft. Über eine Kamera analysiert die Künstliche Intelligenz die Mimik sowohl der Nachhilfeschüler als auch der Lehrer. Sie teilte dann mit, mit welcher Emotion die Lernenden auf den Unterricht beziehungsweise die Themen reagierten. Damals stellte sich heraus, dass Latein die meisten negativen Emotionen hervorrufen kann. Was genau der Mehrwert der Künstlichen Intelligenz in diesem Lernsetting sein könnte, blieb unklar. Nun aber stellt sich heraus: Man kann KI nicht nur einsetzen, um die Mimik der Schüler beim Lernen zu kontrollieren. Die KI kann den Nachhilfelehrer wohl bald komplett ersetzen.
GoStudent setzt dagegen zunächst auf ein Rezept, das man bei diesem Unternehmen nicht als erstes erwartet hätte. “Bei GoStudent bieten wir 1:1-Nachhilfe von Mensch zu Mensch”, sagte Ohswald. Aufgrund dieser persönlichen Verbindung blieben die Schüler während ihrer gesamten Lernreise bei dem Anbieter. Damit dies auch so bleibt, soll künftig eine KI die Prozesse bei GoStudent automatisieren, “sodass die Tutor*innen mehr Zeit mit den Schüler*innen verbringen können.” Christian Füller
Die neu auf den Markt gekommene Studien-App Studeez hat die Künstliche Intelligenz ChatGPT regulär in sein Angebot integriert. Studierende können dem Chatbot von OpenAI Fragen stellen. “Es war uns wichtig, diese bahnbrechende Technologie in unser Angebot einzubeziehen und Studierenden zugänglich zu machen”, sagt Gründer Ahmad El-Ali. Studeez ist eine App, in der sich Studierende vernetzen, gemeinsam Lerngruppen bilden und Lernkarten sowie Video-Tutorials für andere Studierende hinterlassen können. “Unser Ziel ist es, auch Studierenden mit besonderen Herausforderungen – Alleinerziehenden oder Einwanderern – eine realistische Chance zu bieten, ihr Studium erfolgreich zu bewältigen”, sagt Co-Gründer Mehmet Can Erden.
Das über einen Chatbot zugängliche KI-Sprachmodell ChatGPT revolutioniert Lernen und Studieren in Windeseile. Die Künstliche Intelligenz ist inzwischen etwa bei Microsoft in die dortige Anwendung Word integriert. Das heißt, Studierende können sie beim Verfassen ihrer Hausarbeiten direkt zum Formulieren verwenden. Die Lern- und Kommunikationsapp für Studierende Studeez eröffnet nun das Rennen auch direkt in den pädagogischen Anwendungen deutscher Provenienz.
Auf Anfrage erklärten die Macherinnen und Macher erfolgreicher Apps wie Deutschfuchs, Inklusion Digital und Brainyou, dass sie die Entwickung von ChatGPT sehr genau beobachten. Einige Anbieter berichteten, sie setzten die KI ganz bewusst nicht ein, um ihre Klientel nicht zu verunsichern. Andere Start-ups wie Eduki teilten mit, dass sie im Backoffice ChatGPT bereits verwenden, und dass eine Nutzung von KI zur Einordnung der Unterrichtsmaterialien in die Lehrpläne vorbereitet wird.
Bei Studeez wird ChatGPT als KI-Tutor eingesetzt. Die Studierenden können so einfache Informationsfragen stellen oder sich auch Textteile erstellen lassen. Auf Bitte vereinfacht der Bot die Antwort. Aber der Sprachgenerator agiert auch als Studienpartner: Er stellt den Studierenden Quiz-Fragen zum jeweiligen Studiengang. Interessant ist, dass die KI über Studeez Eingang in das Lernen anderer Studenten findet. Denn die Lernkarten, von denen die Studierenden auch finanziell profitieren, entstehen im Dialog zwischen Künstlicher Intelligenz und menschlichen Kommilitonen. Christian Füller
Ein Dutzend Länder hat eine gemeinsame Online-Schule für Hochbegabte und so genannte Underachiver eingerichtet. Letzeres sind Kinder, deren Potenzial in der Schule nicht erkannt wird und die sich oft langweilen. Seit Anfang der Woche sind die Live-Kurse zu erreichen. Die “digitale Drehtür” ist ein Angebot für Hochbegabte in beteiligten Schulen der Länder. Die Schülerinnen und Schüler verlassen zunächst das Präsenz-Klassenzimmer ihrer Regelschule. Sie nehmen dann an einem der Angebote oder Live-Kurse der digitalen Schule teil. Koordiniert wird das Projekt in Bremen. Zu den ersten Angeboten zählen zum Beispiel “Magisches Schnellrechnen” für die Jahrgänge fünf bis acht. Oder “Story Art – Jane Goodall” (3./4. Klasse). Oder “Brain Box” für die Jahrgänge neun bis 13.
Die Idee stammt zum einen aus dem pädagogischen Konzept der Drehtür für Hochbegabte in Regelklassen. Sie können für Vertiefung und Beschleunigung ihre Klassen zeitweise verlassen. Zum anderen steht das sogenannte interessengeleitete Lernen Pate. “Wenn Kinder etwas lernen, das ihren Interessen entspricht, haben sie noch einmal eine ganz andere Motivation“, sagt dazu Projektleiterin Michaela Rastede vom Landesinstitut für Lehrerbildung in Bremen. Sie wolle die Kinder auf ihren Interessengebieten zu kleinen Expertinnen und Experten machen. Für die Möglichkeit, den Unterricht für zeitweises Selbst-Lernens zu verlassen, kämpft auch der elfjährige Hochbegabte Jonathan Birk.
Die Idee für eine digitale Drehtür ist während Corona schrittweise entstanden. Zunächst mit acht Ländern, nun mit zwölf Bundesländern. Richtig spannend wird die Teilzeit-Online-Schule durch die in Hessen entwickelten Selbst-Lernkurse, Projekträume und Live-Meetings, die ab sofort zugänglich sein sollen. “Die digitale Drehtür unterstützt den Individualisierungsauftrag im Regelunterricht und entlastet die Schulen durch ihr Blended-Learning-Angebot”, heißt es auf der Homepage. Mitgliedsschulen erhalten einen bevorzugten Zugang. Aber es können sich auch andere Schüler und Anbieter anmelden. Christian Füller
Die vom BMBF finanzierte MINT-Bildungs-Initiative “Haus der kleinen Forscher” heißt ab sofort “Stiftung Kinder forschen”. Mit dem neuen Namen solle sich auch das Angebot in den kommenden Jahren wandeln. Der Vorstandsvorsitzende Michael Fritz tritt nach zehn Jahren zum Jahresende ab. “Der anstehende Wandel wird einige Jahre dauern und hier möchte ich den Weg für einen Nachfolger frei machen”, sagte er Table.Media. Bis Mitte Mai läuft die Ausschreibung um die Nachfolge.
2006 gegründet, hat die Stiftung mit ihren Partnern nach eigenen Angaben bundesweit bereits mehr als 86.000 pädagogische Kräfte in Kitas, Horten und Grundschulen weitergebildet. Daneben will die Stiftung nun ihr Angebot ausweiten. Denn: “Seit geraumer Zeit nehmen die Teilnehmerzahlen bei unseren Fortbildungen ab, in Präsenz wie digital”, sagt Fritz. Ein Grund sei der zunehmende Personalmangel in Kitas wie Grundschulen – für Fortbildungen fehle da schlicht die Zeit.
Fritz vermutet, dass viele Pädagogen den Fokus mittlerweile weniger auf MINT-Bildung legen. Angesichts der schlechten Ergebnisse im IQB-Bildungstrend spiele Sprachbildung in der Kita und das Lesen-, Schreiben- und Rechnenlernen in der Schule eine zentrale Rolle – verständlicherweise.
Seit 2008 fördert das BMBF die Stiftung, seit 2021 institutionell mit 11,9 Millionen Euro jährlich. Die Namensänderung soll zum Ausdruck bringen, dass Kinder überall forschen und entdecken – nicht nur in Kita oder Schule. Außerdem wolle man durch den genderneutralen Begriff “Kinder” weg von “kleine Forscher”, da gerade die MINT-Förderung von Mädchen bedeutend sei. MINT-Bildung versteht die Stiftung schon seit längerem ausdrücklich als essenziell verknüpft mit Bildung für nachhaltige Entwicklung. Anna Parrisius
Nahezu jeder zweite 15-Jährige sieht sich künftig in einem Job, den es bald schon nicht mehr geben könnte. Zu dem Ergebnis kommt der Aktionsrat Bildung in seinem diesjährigen Gutachten mit Schwerpunkt auf Bildung und berufliche Souveränität (zum Download). Die deutsche Berufsorientierung sei “tendenziell auf die berufliche Struktur der Vergangenheit ausgerichtet”, bemängeln die Bildungsexpertinnen und -experten. Der Rat, 2005 von der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft ins Leben gerufen, vereint neun renommierte Bildungsforscher und legt oft wegweisende, indes nicht immer viel beachtete Erkenntnisse vor. Vorsitzender, damals wie heute: der Erziehungswissenschaftler Dieter Lenzen.
Dieses Jahr haben die Forschenden Pisa-Daten (2018) mit Berufsfeldern verglichen, die einem hohen Automatisierungsrisiko unterliegen. Konkret wurden 15-Jährige für die OECD-Studie Pisa gefragt, in welchen Berufen sie sich als 30-Jährige sehen. Das Ergebnis notiert der Aktionsrat als “beunruhigend“. Mehr als 45 Prozent gaben einen Beruf an, der – ebenfalls laut OECD-Daten – “stark gefährdet ist”, automatisiert zu werden. Unter Jugendlichen mit benachteiligtem Hintergrund waren es sogar fast 50 Prozent.
Um welche Berufe es geht, darüber geben Fachkräfteprojektionen – unter anderem vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) und dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) – Aufschluss. Besonders großer Überhang droht im Bereich Unternehmensführung und -organisation, inklusive Sekretariat. Es folgen Finanzdienstleistung, Rechnungswesen, Steuerberatung und kaufmännische Berufe. Dringend gebraucht werden – natürlich – Fachkräfte in IT- und Kommunikationstechnologie, aber auch in “Körperpflege, Wellness, Gesundheit”, medizinischen und erzieherischen Berufen. “Die Verhinderung von Mismatch am Arbeitsmarkt” sei angesichts der Diskrepanz eine “zentrale Herausforderung für die Berufsorientierung”, so das Gutachten.
Der Aktionsrat empfiehlt, Studien- und Berufsorientierung frühzeitig, altersgerecht, und fächerübergreifend in den Lehrplänen zu verankern. Alle Bildungseinrichtungen sollten je eine spezialisierte Fachkraft zur Förderung “beruflicher Souveränität” einstellen. Kinder und Jugendliche müssten lernen, selbstbestimmt und frei von Geschlechterstereotypen, sozialem Status oder Herkunft einen Beruf zu wählen und auszuüben. Eine weitere Empfehlung, mit der sich auch so manche unnütze Ausbildung vielleicht retten ließe: mehr modularisierte Weiterbildungs- und lebensbegleitende Beratungsangebote. Jeannette Goddar
Im zweiten Coronajahr 2021 standen 2,64 Millionen der 20- bis 35-Jährigen ohne formalen Berufsabschluss da. 310.000 mehr als ein Jahr zuvor. Das geht aus der Endfassung des Berufsbildungsberichts 2023 hervor, wie das Handelsblatt berichtet. In einer früheren Version des Berufsbildungsberichts, der Table.Media vorliegt, war noch von 2,52 Millionen jungen Menschen die Rede – schon das wäre ein deutliches Rekordhoch gewesen (2020: 2,33 Millionen). Das Kabinett befasst sich an diesem Mittwoch mit dem Bericht, den das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) für die Regierung erstellt.
In der Vorabversion des Berichts wird auch angeführt, dass der Anteil unbesetzter Ausbildungsstellen bei den Betrieben erstmals seit Erfassung über dem Anteil noch suchender Bewerber lag. “Aus Sicht der Jugendlichen hat sich die Marktlage demnach weiter verbessert“, schließt das BMBF. Die Herausforderungen für Betriebe hätten hingegen zugenommen. Eine bessere Zusammenführung von Angebot und Nachfrage auf dem Ausbildungsmarkt sei “bereits seit längerer Zeit ein zentrales berufsbildungspolitisches Handlungsfeld”. Anna Parrisius
Der “Bildungsrat von unten” hat am Montagabend seine Arbeit aufgenommen. Ziel der zivilgesellschaftlichen Initiative ist es, ein Gegenkonzept zu den Empfehlungen der Ständigen wissenschaftlichen Kommission (SWK) zum Lehrermangel zu erarbeiten. Dieses SWK-Papier war für viele Teilgebende des Bildungsrats der Tropfen, “der das Fass zum Überlaufen gebracht hat”. So äußerten sich mehrere Teilnehmer. “Die Kommission empfiehlt uns Lehrkräften mitten in der Bildungskrise Yoga und Mehrarbeit – das ist nicht hilfreich und das wollen wir so nicht stehen lassen.” Das sagte die baden-württembergische Lehrerin Susanne Posselt. Sie ist eine der Gründerinnen des Bildungsrats von unten. Zu den Organisatoren zählen noch der Bildungsaktivist Philipp Dehne, der Lehrer und Bildungsinfluencer Bob Blume und der ehemalige Schul-Staatssekretär Mark Rackles.
Der “Bildungsrat von unten” bezieht sich auf den im Koalitionsvertrag 2017 geplanten Bildungsrat und einen 2021 beschlossenen Bildungsgipfel mit Zivilgesellschaft. Beides hat die Politik nicht umgesetzt. Insgesamt 900 Menschen sind auf der Seite des Bildungsrats registriert. Am Montag hatten sich 180 Aktivisten angemeldet. In vier Online-Foren wollen sie zunächst das Alternativkonzept zum Lehrermangel entwickeln. Eine erste Stellungnahme zum Teilzeitkonzept der SWK hat der Bildungsrat bereits veröffentlicht. “Die Empfehlung der SWK zur Senkung der Teilzeitquote ist somit als Maßnahme gegen den Lehrkräftemangel ungeeignet und wirkt mittelfristig kontraproduktiv”, schreiben die Autoren. Am 19. Juni treffen sich die Aktivisten wieder zu einer großen Videokonferenz. cif
Baden-Württembergs Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) bereitet ein Konzept zur verpflichtenden Sprachförderung für Vorschulkinder vor. “Der Anfang des Bildungswegs ist entscheidend”, diese Schlussfolgerung zieht Schopper aus der IQB-Studie für den Primarbereich. Sie sagte auf Anfrage: “Bildungsgerechtigkeit beginnt noch vor der Grundschule, in der Kita.” Bereits im vierten Lebensjahr wolle Baden-Württemberg daher künftig “eventuelle Förderbedarfe” der Kinder identifizieren, “um dann anschließend frühzeitig und zielgerichtet fördern zu können”.
Der Sprachstand von Vierjährigen wird in Baden-Württemberg schon jetzt bei den Einschulungsuntersuchungen getestet. Förderangebote sind aber freiwillig. Jetzt will Baden-Württemberg sich an Hamburg orientieren. Im Stadtstaat sich gezielte Sprachförderungen für Fünfjährige Pflicht, wenn sie bei den Sprachtests Defizite zeigen.
Zentraler Baustein des geplanten Konzepts für Baden-Württemberg ist eine früher einsetzende verbindliche Förderung vor dem Schuleintritt für alle Kinder, die Förderbedarf haben, heißt es aus dem Kultusministerium in Stuttgart. Dabei solle die Sprachförderung aber nicht von der Kita wegverlagert werden.
Allerdings müssen gesetzliche Voraussetzungen geschaffen werden, um die verpflichtende Förderung durchsetzen zu können. Über die Änderung der Einschulungsuntersuchungen verhandelt das Kultusministerium gegenwärtig mit dem Sozialministerium. Die Finanzierung ist noch ebenso offen, wie die Frage nach genügend Räumlichkeiten und qualifiziertem Personal.
Schopper hatte bereits geäußert, dass die Finanzierung nicht vor dem Jahr 2025 stehen werde. Bisher liegt die Zuständigkeit bei den Kommunen als Kindergartenträgern. Sollte die Sprachförderung vom Land als Pflicht verlangt werden, stellt sich den Kommunen die Frage der Kostenübernahme.
Beim IQB-Bildungstrend von 2021 hatten in Baden-Württemberg 19,1 Prozent der Grundschulkinder im Lesen und beim Zuhören sogar 28 Prozent die Mindeststandards nicht erreicht. Renate Allgöwer

Wenn Sabine Pfeiffer darüber spricht, was der Wandel der Arbeitswelt für beruflich Qualifizierte bedeutet, blickt sie nicht aus einem Elfenbeinturm. Pfeiffer selbst verließ nach der zehnten Klasse das Gymnasium, um sich als Werkzeugmacherin ausbilden zu lassen. “Der Beruf war damals sehr modern und zukunftsträchtig”, erzählt Pfeiffer, die heute Professorin für Soziologie an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen-Nürnberg ist. Abitur und Studium seien in den Achtzigerjahren eher noch die Ausnahme gewesen.
Überall in den Betrieben kam gerade die computergestützte Maschinensteuerung an, die CNC-Technik. Das fand Pfeiffer sehr spannend. In der Schule rieten ihr Lehrkräfte jedoch von der Ausbildung ab. Sie fanden es nicht angemessen für ein Mädchen, “in die Fabrik” zu gehen. “Lehrkräfte an Gymnasien haben bis heute oft wenig Vorstellungen davon, wie es in einem produzierenden Unternehmen aussieht“, sagt Pfeiffer.
Nach ihrer Ausbildung arbeitet Pfeiffer fast zehn Jahre im technischen Bereich für Maschinenbau-, Automobil- und IT-Firmen, dann studiert sie Produktionstechnik. Vom Fachhochschulstudium ist sie enttäuscht: “Es war wenig praxisnah und nicht aktuell”, erinnert sie sich. “Es wurden zum Beispiel DIN-Normen unterrichtet, die es schon seit drei Jahren nicht mehr gab.” Auch intellektuell fühlt sie sich unterfordert.
Mit 27 Jahren beginnt Pfeiffer ein Soziologiestudium, das sie 1998 mit einer Magisterarbeit über Internetarbeit abschließt. Fünf Jahre später promoviert sie zum Thema “Arbeitsvermögen“. Weitere sechs Jahre später folgt die Habilitation. Thema: “Hunger in der Überflussgesellschaft.” Seit 2018 hat Pfeiffer den Lehrstuhl für Arbeit, Soziologie und Technik an der Uni Nürnberg und ist weiterhin vielseitig interessiert. So ließ sie sich etwa zum Master in den Organisationsmethoden Scrum und OKR zertifizieren. Und: Vor kurzem machte sie einen Eselführerschein.
Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist die Zukunft der Arbeit und der Berufsbildung. Dabei forscht sie in Projekten, gefördert durch das BMBF, das Wirtschaftsministerium Baden-Württemberg oder etwa durch den Nachhaltigkeitsbeirat der Volkswagen AG. Für die IG Metall befragte Pfeiffer Ausbilder aus der Metall- und Elektrobranche, wie sie auf die Digitalisierung reagieren.
An der beruflichen Bildung schätzt die Soziologin ihre Praxisnähe. Ständig würden Berufsbilder aktualisiert und an die Arbeitsrealität angepasst, berichtet sie. Als zum Beispiel klar wurde, dass reine Mechatroniker in vielen Industriebetrieben allein nicht mehr ausreichen und es Spezialisten für IT-Wissen und Prozesskenntnis braucht, entwickelte die Branche innerhalb weniger Monate den Beruf des Produktionstechnologen, seit 2008 gibt es ihn.
Mittlerweile gebe es für die Betriebe in vielen Ausbildungs-Curricula zudem mehr Freiräume als früher, Azubis nach den eigenen Bedürfnissen in bestimmten Themen auszubilden. Allerdings, betont Pfeiffer, gelingt das nur gut, wenn die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen in den Unternehmen eng mit den Ausbilderinnen und Ausbildern zusammenarbeiten. “Ungefähr ein Drittel der Betriebe im Bereich Metall und Elektro macht das bereits vorbildlich.” Leider gebe es aber noch viele Betriebe, die Forschung und Ausbildung gar nicht oder nur unzureichend miteinander verzahnen.
Pfeiffer ist sich sicher: Von ihrer Berufserfahrung in der Technik profitiert sie als Professorin noch heute. Zum Beispiel könne sie in der Debatte über Industrie 4.0 sehr gut zwischen Hype und tatsächlich wichtigen Veränderungen unterscheiden. Ihre praktischen Erfahrungen würden sie auch als Soziologin besser machen.
Was es noch zu tun gibt? Pfeiffer findet unfair, dass heute jemand mit Berufsausbildung erst noch einen Meister machen muss, um eine ähnliche Qualifikation zu erlangen wie jemand mit Bachelorabschluss. “Menschen mit einer Ausbildung bringen jede Menge Berufserfahrung und einen ordentlichen Rucksack an Fachwissen mit”, betont die Soziologin. “Trotzdem wird das Akademische immer als höher betrachtet.” Das hält Pfeiffer für eine “dramatische gesamtgesellschaftliche Fehleinschätzung“. Sarah Kröger
Research.Table: Exist: Strukturelle Förderung vor dem Aus: Der Bund will offenbar seine Förderung im Bereich der Gründungen aus der Wissenschaft kürzen. Die strukturelle Exist-Förderung für Hochschulen durch das BMWK läuft aus. Nur wenige Leuchttürme sollen bleiben. Parallel endet ein BMBF-Start-up-Programm für HAWs. In einigen Regionen werden damit bis zu 80 Prozent der Mittel für Gründungsunterstützung wegbrechen. Mehr
Research.Table: Mit Energy Earthshots zu sauberer Energie: Geraldine Richmond ist Under Secretary for Science and Innovation im Department of Energy (DOE). Mit Investitionen in Forschung und Entwicklung möchte sie die ehrgeizigen Ziele der Regierung Biden erreichen und die USA CO₂-neutral machen. Mehr
10. Mai 2023, 18:00 bis 19:30 Uhr, online
Fachgespräch Lehrerbildung: Core practices als Konzept einer praxisbasierten Lehrkräftebildung
Die Unis Dresden, Hannover, Münster und Tübingen beschäftigen sich in dieser Veranstaltungsreihe mit verschiedenen Aspekten der Lehrerbildung. Hier sprechen Urban Fraefel (PHNW), Falk Scheidig (RUB) und Marco Galle (PH Luzern) über die Rolle von Grundpraktiken in der Lehrerbildung. INFOS & ANMELDUNG
11. Mai 2023, Berlin
Studienvorstellung: Schule im Brennpunkt
Anlässlich der Feierlichkeiten zum zehnjährigen Bestehen der Wübben-Stiftung präsentiert diese die Ergebnisse einer Befragung von Schulen im Brennpunkt. Die Stiftung will systematisch ergründen, was diese Schulen ausmacht und mit welchen Herausforderungen sie zu kämpfen haben. INFOS & ANMELDUNG
16. Mai 2023, 15:15 bis 16:45 Uhr, Leipzig
Vortrag: Digitalisierung in der Sonderpädagogik
Dieser Vortrag handelt von der sonderpädagogischen Diagnostik und Gestaltung von Förderprozessen im Zusammenhang mit der Digitalisierung der Bildungslandschaft. Neben einer allgemeinen Einführung zur Digitalisierung in der Sonderpädagogik geht es auch um deren Bedeutung für den diagnostischen Prozess. INFOS & ANMELDUNG
16. Mai 2023, 16:15 bis 17:45 Uhr, online
Munich Lectures: Making Education Research Relevant to Those Who Educate
Im Zuge der Vortragsreihe International Munich Lectures in Teacher Education Research sprechen internationale Spitzenforscher über Entwicklungen der aktuellen Lehrerbildungsforschung. Den Auftakt macht Prof. David B. Daniel (James Madison University). INFOS & ANMELDUNG
22. Mai 2023, 13:30 bis 14:30 Uhr, online
SWK Talks: Datenbasierte Schulentwicklung ermöglichen
Im Rahmen der SWK Talks diskutieren deren Mitglieder mit Vertretern aus Politik und Praxis darüber, wie Perspektiven für die Grundschule geschaffen werden können. In der sechsten Folge sind Daniel Hager-Mann und Johanna Börsch-Supan zu Gast und sprechen über datenbasierte Schulentwicklung. INFOS & ANMELDUNG
23. Mai 2023, 12:30 bis 13:30 Uhr, online
Fachveranstaltung: Backstage Bildung
Julian Schmitz (Uni Leipzig) präsentiert aktuelle empirische Daten zur psychosozialen Belastung von Kindern und Jugendlichen. Zudem spricht er über die Wechselwirkung von Unterrichtsmerkmalen und psychischer Gesundheit und geht auf die Bedeutung von psychosozialen Hilfsangeboten an Schulen ein. INFOS & ANMELDUNG
23. bis 25. Mai 2023, Karlsruhe
Fachmesse: LearnTec
Digitales Lernen in Schule, Hochschule und Beruf ist der Fokus der diesjährigen LearnTec. Die Messe thematisiert verschiedene Aspekte des E-Learnings: von Gamification, Virtual Reality und Mobile Learning über Diklusion, Coding und Robotik. INFOS & ANMELDUNG
24. bis 26. Mai 2023, Paris
Konferenz: RC28
Die diesjährige RC28 – die Fachmesse des Research Committee 28 on Social Stratification and Mobility – beschäftigt sich mit Bildung und sozialer Ungleichheit im Verlauf des Lebens. Keynote-Speaker sind Jutta Allmendinger und Aaron Reeves. INFOS & ANMELDUNG
Maximalforderungen zu stellen, kann ein kluger Schachzug sein – oder das Gegenüber derart verprellen, dass der Gesprächsfaden abreißt. Letzteres könnte Bettina Stark-Watzinger bewirkt haben, als sie vergangene Woche die Eckpunkte für das Startchancen-Programm vorstellte. Ihre Verhandlungspartner in den Ländern bezeichnen das BMBF nun als “Elefant im Porzellanladen” oder erteilen eine Generalabsage an die Kofinanzierung, wie Holger Schleper berichtet.
2,64 Millionen junge Menschen sind ohne Berufsbildung. Diese ernüchternde Zahl wird die Bundesregierung heute in ihrem Berufsbildungsbericht veröffentlichen. Aber im Feld der Beruflichen Bildung gibt es auch gute Nachrichten. So erfreut sich die schulische Berufsbildung immer größerer Beliebtheit. Anna Parrisius erklärt, was die Attraktivität dieses Weges für die aktuelle Generation ausmacht.
In der Bildungspolitik gibt es einen Akteur, der auf vielen Ebenen mitmischt: die Stiftungen. Eine jüngere, oft übersehene ist die Wübben Stiftung. Nun wird sie zehn Jahre alt und blickt auf einige Erfolge. Denn sie schafft es, banale Ideen effektiv umzusetzen – und kommt damit in Verwaltungen und Ministerien an. Die Methode Wübben beleuchten Vera Kraft und Moritz Baumann.
Wie immer freuen wir uns über Hinweise, Lob und Kritik an bildung@table.media.
Viel Spaß bei der Lektüre wünscht

Die Stimmung zwischen Bund und Ländern ist frostig, nachdem die FAZ und Table.Media vergangene Woche das BMBF-Eckpunktepapier zum Startchancen-Programm öffentlich gemacht haben. Eines der zentralen Vorhaben im Haus von Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) droht ins Stocken zu geraten. Mit dem milliardenschweren Startchancen-Programm sollen über zehn Jahre lang bundesweit 4.000 Brennpunktschulen gefördert werden.
“Mit seinem einseitigen Vorpreschen verhält sich das BMBF wie ein Elefant im Porzellanladen”, teilt ein Sprecher des sächsischen Kultusministeriums mit. ”Mit der Vorlage hat der Bund ohne Vorankündigung den gemeinsamen Verhandlungsweg verlassen.”
Woran entzündet sich die harsche Kritik, die auch in anderen Ländern deutlich vernehmbar ist? Ein Überblick:
Im März hatten sich die Länder nach intensiven Beratungen auf einen Kompromiss beim Finanzierungsmechanismus geeinigt. Nur sehr zaghaft wollte die KMK vom Königsteiner Schlüssel abrücken – Länder wie Sachsen und Bayern blockierten eine Verteilung nach sozio-ökonomischen Kriterien. Mit dem Beschluss ”waren klare inhaltliche und verfahrensmäßige Eckpunkte benannt, auf die das BMBF bisher nicht reagiert hat”, heißt es aus Sachsen. ”Und auch die Ergebnisse der drei gemeinsam von Bund und Ländern konzipierten Fach-Workshops werden schlichtweg ignoriert.”
Karin Prien (CDU), Bildungsministerin von Schleswig-Holstein, argumentiert ebenfalls in diese Richtung: “Ich hätte mir gewünscht, dass vonseiten des Bundes deutlicher herausgestellt wird, dass die wissenschaftlichen Erfahrungen, das Know-how für die Ausrichtung des Programms, aus den Ländern stammt”, sagt sie im Gespräch mit Table.Media.
Das BMBF will jährlich bis zu einer Milliarde Euro investieren - verknüpft mit der Forderung, dass sich die Länder ebenfalls mit einer Milliarde Euro pro Jahr beteiligen. Die Reaktionen waren erwartbar: “Die Vorschläge des BMBF sind bisher so wenig konkret ausgestaltet, als dass ernsthaft die Bereitstellung von Landesmitteln geprüft werden könnte”, heißt es aus Sachsen. Prien wird noch deutlicher: “Eine Kofinanzierung von 50 Prozent durch die Länder kommt unter keinen Umständen in Betracht. Sie finanzieren schon jetzt 90 Prozent der Bildung.”
Die Länder wollen erreichen, dass der Bund laufende Programme anrechnet – auch wenn sie nicht perfekt in die Drei-Säulen-Schablone des Startchancen-Programms passen. Schleswig-Holstein befürchtet beispielsweise beim erfolgreichen Perspektivschul-Programm kürzen zu müssen, um das Bundesvorhaben zu finanzieren. Das Programm für Schulen in sozialen Brennpunkten läuft noch bis 2024 und ist mit 50,3 Millionen Euro ausgestattet.
95 Prozent nach dem Königssteiner Schlüssel, fünf Prozent nach einem Sozialindex – darauf hatten sich die Länder im März verständigt. Im BMBF-Papier ist davon keine Rede mehr. Das Ministerium wagt den großen Gegenentwurf und ersetzt den Königssteiner Schlüssel durch einen Verteilmechanismus, der auf einem Sozialindex basiert. Der Anteil an Kindern im SGB-II-Bezug oder mit Migrationshintergrund soll ein wesentliches Kriterium sein.
“Es wäre schön gewesen, hier Berechnungsmodelle zu sehen”, sagt Prien. Das vom BMBF vorgeschlagene Finanzierungsmodell könnte dazu führen, dass Sachsen - und auch Bayern - fast leer ausgehen. Stark-Watzinger hat bislang jedoch keine Tabellen vorgelegt, wie viele Millionen Euro in welches Land gehen.
Das sächsische Kultusministerium will den BMBF-Vorschlag so nicht mittragen: “Eine Beschränkung auf die beiden Kriterien Sozialhilfebezug und Migrationshintergrund ist für Sachsen in jedem Fall nicht akzeptabel.” Soziale Benachteiligung in den ostdeutschen Ländern sei auch bedingt durch demografische Faktoren und den Strukturwandel. “Belastend sind zudem Nachwirkungen von Transformationsprozessen”, heißt es.
Das Startchancen-Programm gliedert sich in drei Säulen: Ein Investitionsprogramm für bauliche Maßnahmen, ein Schulbudget zur Stärkung der schulischen Autonomie sowie ein Budget für Schulsozialarbeit. Prien sieht unter anderem das Schulbudget kritisch: Hier sieht das BMBF 300 Millionen Euro ab 2025 vor, was umgerechnet etwa 75.000 Euro für jede der 4000 Startchancen-Schulen sind. “Das ist unterdimensioniert. So schafft man keinen Turnaround”, kritisiert Prien und stützt sich wieder auf das Perspektivschul-Programm. “In Schleswig-Holstein erhalten Schulen mit den größten Bedarfen 400.000 Euro. Und dieses Geld brauchen sie auch.”
Bayern und Hessen wollten sich auf Nachfrage von Table.Media nicht äußern. Man müsse das Papier aus Berlin erstmal intern prüfen, heißt es. Der bayerische Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) hat sich in den vergangenen Monaten wiederholt geweigert, gegenüber Table.Media ausführlich zum Startchancen-Programm Stellung zu nehmen, während sein Land hinter verschlossenen Türen gerade die Abkehr vom Königsteiner Schlüssel blockiert.
Mit ihrem Papier hat Stark-Watzinger die Länder auf offener Bühne in die Enge getrieben. Ihre Strategie ist der Kollisionskurs, weil sie überzeugt ist, die besseren Ideen für das Startchancen-Programm zu haben. Bis zur parlamentarischen Sommerpause will sie sich mit den Ländern einigen. Prien plädiert daher für einen neuen Arbeitsmodus: “Wir können nicht bis Ende Mai warten, um weiterzuverhandeln. Wir müssen Gas geben und benötigen jetzt wöchentliche Sitzungen.” Das wäre ein neues Tempo. Bis die offiziellen Verhandlungen am Dienstag starteten, hat es 17 Monate Vorbereitung bedurft.
Geht es nach Dieter Dohmen, kann es nicht mehr nur heißen: Viele studieren heute lieber, als eine duale Ausbildung zu machen. Für den Direktor des Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS) zeichnet sich für die betriebliche Ausbildung ein anderer, an Bedeutung gewinnender Konkurrent ab: die schulische Ausbildung. Auszubildende lernen dabei primär an einer Berufsfachschule, meist mit Praxisphasen. Die Ausbildungsplätze richten die Bundesländer ein.
Grundlage für Dohmen ist die Länderauswertung des “Monitor Ausbildungschancen” im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung (zum Download). Für die Studie hat der Bildungsökonom berechnet, wie viele Schulabgänger eines Jahrgangs eine betriebliche Ausbildung oder eine schulische Ausbildung beginnen. Dabei zeigt sich: Der Rückgang der Ausbildungsverhältnisse zwischen 2011 und 2021 betrifft vor allem die duale Ausbildung. In allen Bundesländern ging sie zurück, bundesweit um fast 18 Prozent. Der Anteil schulischer Berufsausbildungen ist hingegen in elf Bundesländern gestiegen.
“Insbesondere bei Jugendlichen mit Mittlerem Schulabschluss gewinnt die schulische Ausbildung”, sagt Dohmen. “In vielen Bundesländern konnte das den Rückgang der dualen Ausbildungsverhältnisse etwas ausgleichen, vereinzelt sogar kompensieren.” Zugutekommt der Azubi-Zuwachs an den Berufsfachschulen vor allem Pflege- und Erziehungsberufen, die den Großteil der schulischen Ausbildungen ausmachen. Angesichts des Fachkräftemangels in Pflege und Kitas eine gute Nachricht – aber auch keine Überraschung, da viele Bundesländer die Plätze in diesen Berufen ausgebaut haben.

Grafik zum Download (hochauflösend)
Die guten Beschäftigungschancen und eine gesteigerte Attraktivität durch bessere Entlohnung und Arbeitsbedingungen könnten zu diesen Berufen motivieren, meint Bernd Fitzenberger, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Der Anteil der Frauen ist in den Ausbildungen in Gesundheits-, Erziehungs- und Sozialberufen besonders hoch. Laut Bundesinstitut für Berufsbildung lag er 2021 bei 76 Prozent. “Männer dominieren hingegen in der dualen Ausbildung – vor allem im Handwerk”, sagt Bernd Fitzenberger.
Für Fitzenberger ist deshalb auch keine Konkurrenz zwischen schulischen und betrieblichen Ausbildungen zu erkennen. “Die Adressaten einer Handwerkslehre und einer Pflegeausbildung unterscheiden sich stark.” Nur für wenige Berufe gebe es zudem sowohl vollzeitschulische als auch duale Ausbildungen – auch das erschwere die Gegenüberstellung.
Dieter Dohmen sieht es anders. “Für bestimmte Gruppen sind schulische Ausbildungen attraktiver”, sagt er. Neben Frauen ziehe die schulische Ausbildung auch eher Jugendliche an, denen das Bewerbungsverfahren bei einem Betrieb zu intransparent oder kompliziert erscheint. Das bestätigt Petra Madyda, Direktorin der Stiftung Lette-Verein, die ein Berufsbildungszentrum in Berlin trägt – dem einzigen Bundesland, in dem die schulische Ausbildung inzwischen mit 51,6 Prozent der Azubis sogar größer ist als die duale Ausbildung.
Dass man sich für eine schulische Ausbildung einfach anmelden kann und angenommen wird, sähen gerade unsichere Jugendliche als Vorteil. “Insgesamt stellen wir fest, dass junge Menschen heute nicht mehr so selbstsicher und belastbar sind, die Pandemie hat das verstärkt.” Damit einher gehe bei den Jugendlichen oft die Überzeugung, die Anforderungen der Unternehmen nicht erfüllen zu können. “Die Schule kennen sie. Hier betreuen und fördern Sozialarbeiter und Lehrkräfte sie individuell, das spricht sich rum.”
Nach Madydas Beobachtung wollten viele Jugendliche sich heute zudem nicht mehr auf eine mehrjährige Ausbildung festlegen. Die Stiftung Lette-Verein hat daher eine ihrer schulischen Ausbildung so verändert, dass die Jugendlichen sie nach je einem Jahr schon mit einem Abschluss verlassen können. Auch die Inhalte hätten sie an der Schule den Interessen der Azubis angepasst – häufig junge Menschen, die in der Schule bisher nicht zurechtkamen.
“Diese Flexibilität haben insbesondere Schulen. Aber auch Betriebe sollten flexibler werden. Sie müssen akzeptieren, dass die neue Generation anders tickt und etwa immer einen Sinn im Ausbildungsinhalt sehen will”, sagt Madyda. Unternehmen sollten Strukturen schaffen und Geld in die Hand nehmen, um auch Jugendliche in Ausbildung aufzunehmen, die noch Begleitung und Unterstützung benötigen.
Auch Dieter Dohmen findet: Ausbildungsbetriebe, die sich schwertun, Azubis zu finden, sollten Lehren daraus ziehen. Sie müssen analysieren, was schulische Ausbildungen ihnen voraushaben. Vor allem kleine Betriebe bräuchten professionelle Unterstützung beim Ausbildungsmarketing, bei der Identifikation und Ansprache möglicher Azubis, aber auch dabei, Kompetenzen der jungen Menschen zu erkennen.
Besonders im Blick hat Dohmen dabei auch Jugendliche mit Migrationshintergrund. “Die Eltern kennen aus ihren Herkunftsländern als qualitativ hochwertige Ausbildung vor allem die schulische – weil praktische Ausbildungen in ihren Herkunftsländern kaum eine Rolle spielen oder in der informellen Wirtschaft angesiedelt sind.”
Direktorin Petra Madyda sagt: “Eine gute Berufsorientierung, auch mit Ansprache der Eltern, ist hier besonders wichtig.” Die Stiftung Lette-Verein richtete 2015/16 eine Willkommensklasse für geflüchtete Frauen aus Syrien, dem Irak, Iran und Afghanistan ein. Sprachkurse und die Integration seien gut gelaufen. Grandios gescheitert sei jedoch der Plan, die Frauen in eine Ausbildung zur Hauswirtschafterin, heute Assistentin für Ernährung und Versorgung, zu übernehmen.
“Aus den Familien hieß es: Du machst doch keine Ausbildung, um Kochen, Nähen und Putzen zu lernen, das kannst du doch bereits”, berichtet Madyda. Duale Dienstleistungsberufe, die in den Herkunftsländern Anlernberufe sind, waren schlecht angesehen, so Madydas Erfahrung. Stattdessen sollte es, wenn schon kein Medizinstudium, dann zumindest eine schulische Ausbildung etwa zur pharmazeutisch-kaufmännischen Assistentin sein – “Hauptsache etwas im weißen Kittel”.
Wer das träge Bildungssystem verändern möchte, braucht nicht unbedingt innovative Ideen. Wichtiger sind ein langer Atem, etwas Fingerspitzengefühl und möglichst maßgeschneiderte Lösungen. Das ist zumindest der Ansatz der Wübben Stiftung Bildung. Vor zehn Jahren wurde die Stiftung gegründet mit dem Ziel, die Chancen benachteiligter Kinder zu verbessern. Der Fokus liegt auf Brennpunktschulen. Die Stiftung bietet jedoch keine Nachhilfe oder Verhaltenstrainings an – vielmehr geht es um “systemische” Veränderung.
Dabei ist der Tanz der Bildungsstiftungen mit der Politik speziell. In vielen Verwaltungen fremdeln die Beamten mit den innovationsgierigen Ideen von ‘Senior Projektmanagern’ und ‘Education Analysts’. Doch der Blick auf die Stiftungsarbeit verändert sich. “Vor zehn Jahren”, erzählt Dirk Zorn, Direktor Education und Next Generation bei der Bertelsmann Stiftung, “waren die Gespräche zwischen Stiftungen und der KMK gelegentlich konfrontativ, heute sind sie sehr viel konstruktiver.”
Diesen neuen Modus der Zusammenarbeit, den Zorn als “ko-konstruktiv” bezeichnet, habe die Wübben Stiftung maßgeblich mitgeprägt. Statt den Ministerien wie ein Lieferdienst fertig evaluierte Projektpakete vor die Tür zu legen, will die Wübben Stiftung die Kreativität in der Verwaltung entfachen und sie ermutigen, Dinge auszuprobieren – auch auf die Gefahr hin zu scheitern.
“Wir wollen der Verwaltung nicht ihre Aufgaben abnehmen. Wir sind ja kein Dienstleister”, sagt Markus Warnke, der diesen Stil geprägt hat. Er ist seit der Gründung 2013 Geschäftsführer der Wübben Stiftung, arbeitete zuvor selbst als Jurist fünf Jahre im Familienministerium in NRW. Der Binnenblick hilft ihm. “Viele Stiftungen kommen oft mit ganz großen Visionen. Alles muss besser werden”, erzählt er. “Natürlich verschreckt das die Ministerien, deren Mitarbeiter eben nicht am Reißbrett sitzen und Schule einfach mal neu denken können.”
Die Wübben Stiftung analysiert zunächst das komplexe Geflecht von Akteuren – von den Schulträgern, über die Bezirksregierungen bis hin zu den Landesinstituten. Bis eine Kooperation steht, kann schon einmal bis zu einem Jahr vergehen.
Schneller ging es in Schleswig-Holstein. Dort arbeitet das Bildungsministerium beim Programm Perspektivschulen mit der Wübben Stiftung zusammen. Eine “Erfolgsgeschichte”, berichtet Referatsleiter Hans Stäcker im Gespräch mit Table.Media. “Der Stiftung ist es gelungen, einen Fundus von exzellenten Mitarbeitern zu generieren, die mit Offenheit an die Verwaltung herangehen und Verständnis haben für die politischen Zwänge in einem Ministerium”, so Stäcker. “Es gibt Stiftungen, die wollen einfach überstülpen. Sie sind sehr beseelt von ihren eigenen Ideen. Das erlebe ich bei Wübben nicht. Wir sind auf der gleichen Wellenlänge.”
Während die Bertelsmann Stiftung die Bildungspolitik mit Studien medial treibt und sich die Telekom Stiftung mit Thomas de Maizière einen profilierten Ex-Minister in den Vorstand geholt hat, treten Warnke und sein Team leiser, viele Jahre kaum wahrnehmbar auf. Am Donnerstag aber, zum zehnjährigen Jubiläum, will es auch die Wübben Stiftung knallen lassen. Zum Festakt in Berlin kommen unter anderem NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU), Staatssekretär Jens Brandenburg (FDP) und Dorit Stenke, Staatssekretärin im schleswig-holsteinischen Bildungsministerium.
Geldgeber ist Walter Wübben, der sein Vermögen mit dem Aufbau und Verkauf eines Klinikkonzerns, großen Immobilienprojekten und weiteren Firmenbeteiligungen verdient hat. Vor zehn Jahren stattete er die Wübben Stiftung mit einem Startkapital von 50 Millionen Euro aus und schießt seitdem immer wieder Geld nach. “Wir sind in der komfortablen Situation, dass wir die Mittel bekommen, die wir für unsere Arbeit benötigen”, sagt Geschäftsführer Warnke. Rund fünf Millionen Euro gibt die Düsseldorfer Stiftung durchschnittlich pro Jahr aus.
Das 22-köpfige Team will “laut sein für die Leisen”, ohne dabei unmittelbar mit den Kindern zu arbeiten. Sie stärken das System drumherum: die Schulen. Mit den in NRW entwickelten Familiengrundschulzentren holt das Wübben-Team die Eltern mit in die Schule, das Programm Impakt-Schulleitung stärkt Schulleiter in ihrer Rolle als Führungskräfte und Innovatoren vor Ort. Beide Projekte sind keine Raketenwissenschaft und doch klaffte hier in NRW und anderen Bundesländern eine Leerstelle. Die Grundidee sei maximal banal, aber wirkungsvoll, sagt Warnke.
Die Stadt Gelsenkirchen hat die Idee der Familienzentren 2014 erstmals formuliert, mithilfe der Wübben Stiftung wurde das Projekt ein Jahr später Realität. Rüdiger Schrade-Tönnißen baute 2015 eines dieser Familienzentren auf, in Gelsenkirchen, wo er seit neun Jahren Schulleiter ist. Natürlich sei es “im Bildungsauftrag jeder Schule verankert”, Kindern zu gelingenden Übergängen von der Grundschule zu den weiterführenden Schulen zu verhelfen und ihnen faire Chancen unabhängig vom Elternhaus zu bieten, sagt Schrade-Tönnißen. 2014 sei die Schule dennoch an einem Punkt gewesen, wo die Zusammenarbeit mit den Eltern stockte und die Ressourcen für eine intensivere Betreuung mancher Kinder fehlte. “Da kam die Idee mit dem Familienzentrum gerade recht.”
Es sei ein langwieriger Prozess gewesen, herauszufinden, wie das Familienzentrum gestaltet werden soll, damit es der Schule und den Schülern wirklich etwas bringt. Diese Überlegungen habe die Wübben Stiftung eng begleitet, sagt Schrade-Tönnißen. Einerseits habe es Möglichkeiten zum Austausch gegeben, andererseits wurde kontrolliert, welche Fortschritte erzielt wurden. “Die Stiftung war von Anfang an sehr darauf bedacht, das Projekt zum Erfolg zu bringen.”
Das zeigte sich auch in der politischen Arbeit der Stiftung. Bereits parallel zum Aufbau der ersten Familienzentren in NRW hat die Stiftung dafür geworben, dass das Projekt verstetigt wird. Zuerst weitete das Bildungsministerium das Konzept auf weitere Schulen aus, dann begann die Debatte um eine dauerhafte Finanzierung. Am Ende schafften es die Familiengrundschulzentren 2022 in den Koalitionsvertrag der schwarz-grünen Regierung. Sachsen möchte zum Schuljahr 2023/2024 ein ähnliches Konzept an einigen Grund- und Förderschulen etablieren.
Auch beim Schulleitungsprogramm ziehen andere Bundesländer nach. Schleswig-Holstein hat Teile des Curriculums für seine Perspektivschulen übernommen. Die Stiftung sei bereit, die eigenen Programme aufzuschnüren und den Strukturen im jeweiligen Bundesland anzupassen. Kein Lieferdienst eben. “Diese Offenheit empfand ich als sehr positiv”, berichtet Referatsleiter Stäcker.
Wenn ein Projekt Erfolg hat, beginnt die nächste Phase. “Dann erwarten wir, dass die Verwaltung die Piloten in die Fläche bringt und in ihren Strukturen einarbeitet”, sagt Warnke. Dabei hat der Wunsch, auch in der Breite wirksam zu sein, in den vergangenen Jahren zu einem Wandel in der Stiftungsarbeit geführt. Ein knalliges Corporate Design, die Gründung des Impaktlabs, politische Lobbyarbeit: Immer mehr wird auch die Wübben Stiftung zum Treiber. Sie wird lauter, ungeduldiger und stößt trotz aller Nähe zur Verwaltung an Grenzen.
Wenn man merke, in einer Abteilung werde das Projekt nicht mit der nötigen Priorität behandelt – dann “lassen wir es bleiben”, so der Geschäftsführer. “Wir können keinen zwingen, mit uns zusammenzuarbeiten”, sagt Warnke. “Wollen wir auch nicht.” Und natürlich gebe es eine “klare Rollenverteilung”. “Wir als Stiftung hoffen darauf, Gehör zu finden, aber entschieden wird letztlich im Parlament, der Verwaltung und den Ministerien.” Moritz Baumann und Vera Kraft
Die Gründer der GoStudent-Online-Nachhilfe versuchten es mit Vorwärtsverteidigung. Mit “Exklusiv: GoStudent kündigt bahnbrechende KI-Integration an” war eine Eilmeldung des führenden Anbieters Europas vor wenigen Tagen überschrieben. Schon der zweite Satz, die Prognose nämlich, dass Künstliche Intelligenz ein Markt-Volumen von 20 Milliarden Euro generieren könne, ließe eine Ahnung aufkommen. Der mit insgesamt drei Milliarden Euro bewertete Aufsteiger im europäischen Nachhilfe-Markt hat Angst. Angst, von der neuen Super-Technologie in den Abgrund gerissen zu werden. Und tatsächlich findet sich mitten in der Mitteilung ein Eingeständnis: “Das Unternehmen räumt ein, dass ein KI-Tutor wesentlich kostengünstiger sein könnte.”
Ein ähnlicher Satz hatte das in den USA ansässiges Unternehmen Chegg mit einem Schlag 50 Prozent seines Wertes an der Börse gekostet. “Seit März verfolgen wir einen signifikanten Anstieg des Interesses von Studierenden an ChatGPT”, sagte der Chef des digitalen Lerndienstes für Studierende, Dan Rosensweig. “Wir glauben, dass das einen Einfluss auf unser Kundenwachstum hat.” Die Aktie geriet sofort ins Straucheln. Denn die entscheidende Frage lautet: Wozu braucht es eigentlich Nachhilfedienste, Tutoren und vorgefertigte Studienliteratur, wenn ChatGPT alles aus einer Hand bietet?
An der Börse in den Staaten wurde die Antwort schnell gegeben. Eine ganze Reihe von Bildungsunternehmen verlor deutlich an Wert. Die Welt berichtete von Einbußen um 15 Prozent beim digitalen Test- und Lehrbuchanbieter Pearson. Auch der renommierte Wissenschaftsverlag Wolters Kluwer gab nach. Die Online-Lernplattform Coursera büßte einige Prozent an Wert ein. Nach unten zog es auch Udemi, einen Online-Marktplatz für Lernen und Lehren. Verluste gab es beim Sprachlernprogramm Duolingo sowie bei 2U und Stride, einem US-Bildungsunternehmen, das sich auf Online-Lernlösungen für Schüler spezialisiert hat.

GoStudent reagierte blitzschnell auf diesen Abschwung. “In erster Linie werden wir KI nutzen, um die Erfahrung von Schüler*innen und Tutor*innen weiter zu verbessern”, sagte CEO Felix Ohswald. Und wurde nicht müde, das Credo maßgeschneiderter Unterrichtsstunden und Lernumgebungen zu beschwören. Ohswald berichtete Table.Media, dass GoStudent ChatGPT bereits in einigen Anwendungen integriert habe. Etwa, um Schülern automatisiert Hinweise auf ihre Beiträge zu geben. Zudem wolle das Unternehmen die Schüler-Daten aus den Online-Sitzungen von GoStudent nutzen, um eine KI zu trainieren.
“Wir sehen uns mit diesem Datenschatz in der Pole-Position bei der Entwicklung einer pädagogischen Künstlichen Intelligenz”, sagte GoStudent-CEO Ohswald. Es werde noch entschieden, ob dies mit Hilfe von open-source-KI-Ressourcen geschehe oder mit kommerziellen KI-Sprachmodellen wie ChatGPT. “Auf welche Variante wir uns dann fixieren, werden die Use-Cases zeigen”, schätzte der junge Gründer.
GoStudent war erst vor kurzem in ganz Europa auf Einkaufstour gegangen in einer Branche, die nun akut von der neuen, niedrigschwelligen KI bedroht wird. “Langfristig will GoStudent den idealen KI-Tutor entwickeln, der auf der Grundlage der Erfahrungen der mehr als 11 Millionen Familien (…) geschult ist.” Mit langfristig sei nicht gemeint, so Ohswald im Gespräch mit Table.Media, “dass das zehn Jahre dauert. Wir sprechen von ein oder zwei Jahren.”
GoStudent war eines der ersten Nachhilfe-Unternehmen, das offensiv mit dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz geworben hatte. Das Ganze ist keine drei Jahre her und betraf einen speziellen Teil im 1:1-Tutor-Geschäft. Über eine Kamera analysiert die Künstliche Intelligenz die Mimik sowohl der Nachhilfeschüler als auch der Lehrer. Sie teilte dann mit, mit welcher Emotion die Lernenden auf den Unterricht beziehungsweise die Themen reagierten. Damals stellte sich heraus, dass Latein die meisten negativen Emotionen hervorrufen kann. Was genau der Mehrwert der Künstlichen Intelligenz in diesem Lernsetting sein könnte, blieb unklar. Nun aber stellt sich heraus: Man kann KI nicht nur einsetzen, um die Mimik der Schüler beim Lernen zu kontrollieren. Die KI kann den Nachhilfelehrer wohl bald komplett ersetzen.
GoStudent setzt dagegen zunächst auf ein Rezept, das man bei diesem Unternehmen nicht als erstes erwartet hätte. “Bei GoStudent bieten wir 1:1-Nachhilfe von Mensch zu Mensch”, sagte Ohswald. Aufgrund dieser persönlichen Verbindung blieben die Schüler während ihrer gesamten Lernreise bei dem Anbieter. Damit dies auch so bleibt, soll künftig eine KI die Prozesse bei GoStudent automatisieren, “sodass die Tutor*innen mehr Zeit mit den Schüler*innen verbringen können.” Christian Füller
Die neu auf den Markt gekommene Studien-App Studeez hat die Künstliche Intelligenz ChatGPT regulär in sein Angebot integriert. Studierende können dem Chatbot von OpenAI Fragen stellen. “Es war uns wichtig, diese bahnbrechende Technologie in unser Angebot einzubeziehen und Studierenden zugänglich zu machen”, sagt Gründer Ahmad El-Ali. Studeez ist eine App, in der sich Studierende vernetzen, gemeinsam Lerngruppen bilden und Lernkarten sowie Video-Tutorials für andere Studierende hinterlassen können. “Unser Ziel ist es, auch Studierenden mit besonderen Herausforderungen – Alleinerziehenden oder Einwanderern – eine realistische Chance zu bieten, ihr Studium erfolgreich zu bewältigen”, sagt Co-Gründer Mehmet Can Erden.
Das über einen Chatbot zugängliche KI-Sprachmodell ChatGPT revolutioniert Lernen und Studieren in Windeseile. Die Künstliche Intelligenz ist inzwischen etwa bei Microsoft in die dortige Anwendung Word integriert. Das heißt, Studierende können sie beim Verfassen ihrer Hausarbeiten direkt zum Formulieren verwenden. Die Lern- und Kommunikationsapp für Studierende Studeez eröffnet nun das Rennen auch direkt in den pädagogischen Anwendungen deutscher Provenienz.
Auf Anfrage erklärten die Macherinnen und Macher erfolgreicher Apps wie Deutschfuchs, Inklusion Digital und Brainyou, dass sie die Entwickung von ChatGPT sehr genau beobachten. Einige Anbieter berichteten, sie setzten die KI ganz bewusst nicht ein, um ihre Klientel nicht zu verunsichern. Andere Start-ups wie Eduki teilten mit, dass sie im Backoffice ChatGPT bereits verwenden, und dass eine Nutzung von KI zur Einordnung der Unterrichtsmaterialien in die Lehrpläne vorbereitet wird.
Bei Studeez wird ChatGPT als KI-Tutor eingesetzt. Die Studierenden können so einfache Informationsfragen stellen oder sich auch Textteile erstellen lassen. Auf Bitte vereinfacht der Bot die Antwort. Aber der Sprachgenerator agiert auch als Studienpartner: Er stellt den Studierenden Quiz-Fragen zum jeweiligen Studiengang. Interessant ist, dass die KI über Studeez Eingang in das Lernen anderer Studenten findet. Denn die Lernkarten, von denen die Studierenden auch finanziell profitieren, entstehen im Dialog zwischen Künstlicher Intelligenz und menschlichen Kommilitonen. Christian Füller
Ein Dutzend Länder hat eine gemeinsame Online-Schule für Hochbegabte und so genannte Underachiver eingerichtet. Letzeres sind Kinder, deren Potenzial in der Schule nicht erkannt wird und die sich oft langweilen. Seit Anfang der Woche sind die Live-Kurse zu erreichen. Die “digitale Drehtür” ist ein Angebot für Hochbegabte in beteiligten Schulen der Länder. Die Schülerinnen und Schüler verlassen zunächst das Präsenz-Klassenzimmer ihrer Regelschule. Sie nehmen dann an einem der Angebote oder Live-Kurse der digitalen Schule teil. Koordiniert wird das Projekt in Bremen. Zu den ersten Angeboten zählen zum Beispiel “Magisches Schnellrechnen” für die Jahrgänge fünf bis acht. Oder “Story Art – Jane Goodall” (3./4. Klasse). Oder “Brain Box” für die Jahrgänge neun bis 13.
Die Idee stammt zum einen aus dem pädagogischen Konzept der Drehtür für Hochbegabte in Regelklassen. Sie können für Vertiefung und Beschleunigung ihre Klassen zeitweise verlassen. Zum anderen steht das sogenannte interessengeleitete Lernen Pate. “Wenn Kinder etwas lernen, das ihren Interessen entspricht, haben sie noch einmal eine ganz andere Motivation“, sagt dazu Projektleiterin Michaela Rastede vom Landesinstitut für Lehrerbildung in Bremen. Sie wolle die Kinder auf ihren Interessengebieten zu kleinen Expertinnen und Experten machen. Für die Möglichkeit, den Unterricht für zeitweises Selbst-Lernens zu verlassen, kämpft auch der elfjährige Hochbegabte Jonathan Birk.
Die Idee für eine digitale Drehtür ist während Corona schrittweise entstanden. Zunächst mit acht Ländern, nun mit zwölf Bundesländern. Richtig spannend wird die Teilzeit-Online-Schule durch die in Hessen entwickelten Selbst-Lernkurse, Projekträume und Live-Meetings, die ab sofort zugänglich sein sollen. “Die digitale Drehtür unterstützt den Individualisierungsauftrag im Regelunterricht und entlastet die Schulen durch ihr Blended-Learning-Angebot”, heißt es auf der Homepage. Mitgliedsschulen erhalten einen bevorzugten Zugang. Aber es können sich auch andere Schüler und Anbieter anmelden. Christian Füller
Die vom BMBF finanzierte MINT-Bildungs-Initiative “Haus der kleinen Forscher” heißt ab sofort “Stiftung Kinder forschen”. Mit dem neuen Namen solle sich auch das Angebot in den kommenden Jahren wandeln. Der Vorstandsvorsitzende Michael Fritz tritt nach zehn Jahren zum Jahresende ab. “Der anstehende Wandel wird einige Jahre dauern und hier möchte ich den Weg für einen Nachfolger frei machen”, sagte er Table.Media. Bis Mitte Mai läuft die Ausschreibung um die Nachfolge.
2006 gegründet, hat die Stiftung mit ihren Partnern nach eigenen Angaben bundesweit bereits mehr als 86.000 pädagogische Kräfte in Kitas, Horten und Grundschulen weitergebildet. Daneben will die Stiftung nun ihr Angebot ausweiten. Denn: “Seit geraumer Zeit nehmen die Teilnehmerzahlen bei unseren Fortbildungen ab, in Präsenz wie digital”, sagt Fritz. Ein Grund sei der zunehmende Personalmangel in Kitas wie Grundschulen – für Fortbildungen fehle da schlicht die Zeit.
Fritz vermutet, dass viele Pädagogen den Fokus mittlerweile weniger auf MINT-Bildung legen. Angesichts der schlechten Ergebnisse im IQB-Bildungstrend spiele Sprachbildung in der Kita und das Lesen-, Schreiben- und Rechnenlernen in der Schule eine zentrale Rolle – verständlicherweise.
Seit 2008 fördert das BMBF die Stiftung, seit 2021 institutionell mit 11,9 Millionen Euro jährlich. Die Namensänderung soll zum Ausdruck bringen, dass Kinder überall forschen und entdecken – nicht nur in Kita oder Schule. Außerdem wolle man durch den genderneutralen Begriff “Kinder” weg von “kleine Forscher”, da gerade die MINT-Förderung von Mädchen bedeutend sei. MINT-Bildung versteht die Stiftung schon seit längerem ausdrücklich als essenziell verknüpft mit Bildung für nachhaltige Entwicklung. Anna Parrisius
Nahezu jeder zweite 15-Jährige sieht sich künftig in einem Job, den es bald schon nicht mehr geben könnte. Zu dem Ergebnis kommt der Aktionsrat Bildung in seinem diesjährigen Gutachten mit Schwerpunkt auf Bildung und berufliche Souveränität (zum Download). Die deutsche Berufsorientierung sei “tendenziell auf die berufliche Struktur der Vergangenheit ausgerichtet”, bemängeln die Bildungsexpertinnen und -experten. Der Rat, 2005 von der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft ins Leben gerufen, vereint neun renommierte Bildungsforscher und legt oft wegweisende, indes nicht immer viel beachtete Erkenntnisse vor. Vorsitzender, damals wie heute: der Erziehungswissenschaftler Dieter Lenzen.
Dieses Jahr haben die Forschenden Pisa-Daten (2018) mit Berufsfeldern verglichen, die einem hohen Automatisierungsrisiko unterliegen. Konkret wurden 15-Jährige für die OECD-Studie Pisa gefragt, in welchen Berufen sie sich als 30-Jährige sehen. Das Ergebnis notiert der Aktionsrat als “beunruhigend“. Mehr als 45 Prozent gaben einen Beruf an, der – ebenfalls laut OECD-Daten – “stark gefährdet ist”, automatisiert zu werden. Unter Jugendlichen mit benachteiligtem Hintergrund waren es sogar fast 50 Prozent.
Um welche Berufe es geht, darüber geben Fachkräfteprojektionen – unter anderem vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) und dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) – Aufschluss. Besonders großer Überhang droht im Bereich Unternehmensführung und -organisation, inklusive Sekretariat. Es folgen Finanzdienstleistung, Rechnungswesen, Steuerberatung und kaufmännische Berufe. Dringend gebraucht werden – natürlich – Fachkräfte in IT- und Kommunikationstechnologie, aber auch in “Körperpflege, Wellness, Gesundheit”, medizinischen und erzieherischen Berufen. “Die Verhinderung von Mismatch am Arbeitsmarkt” sei angesichts der Diskrepanz eine “zentrale Herausforderung für die Berufsorientierung”, so das Gutachten.
Der Aktionsrat empfiehlt, Studien- und Berufsorientierung frühzeitig, altersgerecht, und fächerübergreifend in den Lehrplänen zu verankern. Alle Bildungseinrichtungen sollten je eine spezialisierte Fachkraft zur Förderung “beruflicher Souveränität” einstellen. Kinder und Jugendliche müssten lernen, selbstbestimmt und frei von Geschlechterstereotypen, sozialem Status oder Herkunft einen Beruf zu wählen und auszuüben. Eine weitere Empfehlung, mit der sich auch so manche unnütze Ausbildung vielleicht retten ließe: mehr modularisierte Weiterbildungs- und lebensbegleitende Beratungsangebote. Jeannette Goddar
Im zweiten Coronajahr 2021 standen 2,64 Millionen der 20- bis 35-Jährigen ohne formalen Berufsabschluss da. 310.000 mehr als ein Jahr zuvor. Das geht aus der Endfassung des Berufsbildungsberichts 2023 hervor, wie das Handelsblatt berichtet. In einer früheren Version des Berufsbildungsberichts, der Table.Media vorliegt, war noch von 2,52 Millionen jungen Menschen die Rede – schon das wäre ein deutliches Rekordhoch gewesen (2020: 2,33 Millionen). Das Kabinett befasst sich an diesem Mittwoch mit dem Bericht, den das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) für die Regierung erstellt.
In der Vorabversion des Berichts wird auch angeführt, dass der Anteil unbesetzter Ausbildungsstellen bei den Betrieben erstmals seit Erfassung über dem Anteil noch suchender Bewerber lag. “Aus Sicht der Jugendlichen hat sich die Marktlage demnach weiter verbessert“, schließt das BMBF. Die Herausforderungen für Betriebe hätten hingegen zugenommen. Eine bessere Zusammenführung von Angebot und Nachfrage auf dem Ausbildungsmarkt sei “bereits seit längerer Zeit ein zentrales berufsbildungspolitisches Handlungsfeld”. Anna Parrisius
Der “Bildungsrat von unten” hat am Montagabend seine Arbeit aufgenommen. Ziel der zivilgesellschaftlichen Initiative ist es, ein Gegenkonzept zu den Empfehlungen der Ständigen wissenschaftlichen Kommission (SWK) zum Lehrermangel zu erarbeiten. Dieses SWK-Papier war für viele Teilgebende des Bildungsrats der Tropfen, “der das Fass zum Überlaufen gebracht hat”. So äußerten sich mehrere Teilnehmer. “Die Kommission empfiehlt uns Lehrkräften mitten in der Bildungskrise Yoga und Mehrarbeit – das ist nicht hilfreich und das wollen wir so nicht stehen lassen.” Das sagte die baden-württembergische Lehrerin Susanne Posselt. Sie ist eine der Gründerinnen des Bildungsrats von unten. Zu den Organisatoren zählen noch der Bildungsaktivist Philipp Dehne, der Lehrer und Bildungsinfluencer Bob Blume und der ehemalige Schul-Staatssekretär Mark Rackles.
Der “Bildungsrat von unten” bezieht sich auf den im Koalitionsvertrag 2017 geplanten Bildungsrat und einen 2021 beschlossenen Bildungsgipfel mit Zivilgesellschaft. Beides hat die Politik nicht umgesetzt. Insgesamt 900 Menschen sind auf der Seite des Bildungsrats registriert. Am Montag hatten sich 180 Aktivisten angemeldet. In vier Online-Foren wollen sie zunächst das Alternativkonzept zum Lehrermangel entwickeln. Eine erste Stellungnahme zum Teilzeitkonzept der SWK hat der Bildungsrat bereits veröffentlicht. “Die Empfehlung der SWK zur Senkung der Teilzeitquote ist somit als Maßnahme gegen den Lehrkräftemangel ungeeignet und wirkt mittelfristig kontraproduktiv”, schreiben die Autoren. Am 19. Juni treffen sich die Aktivisten wieder zu einer großen Videokonferenz. cif
Baden-Württembergs Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) bereitet ein Konzept zur verpflichtenden Sprachförderung für Vorschulkinder vor. “Der Anfang des Bildungswegs ist entscheidend”, diese Schlussfolgerung zieht Schopper aus der IQB-Studie für den Primarbereich. Sie sagte auf Anfrage: “Bildungsgerechtigkeit beginnt noch vor der Grundschule, in der Kita.” Bereits im vierten Lebensjahr wolle Baden-Württemberg daher künftig “eventuelle Förderbedarfe” der Kinder identifizieren, “um dann anschließend frühzeitig und zielgerichtet fördern zu können”.
Der Sprachstand von Vierjährigen wird in Baden-Württemberg schon jetzt bei den Einschulungsuntersuchungen getestet. Förderangebote sind aber freiwillig. Jetzt will Baden-Württemberg sich an Hamburg orientieren. Im Stadtstaat sich gezielte Sprachförderungen für Fünfjährige Pflicht, wenn sie bei den Sprachtests Defizite zeigen.
Zentraler Baustein des geplanten Konzepts für Baden-Württemberg ist eine früher einsetzende verbindliche Förderung vor dem Schuleintritt für alle Kinder, die Förderbedarf haben, heißt es aus dem Kultusministerium in Stuttgart. Dabei solle die Sprachförderung aber nicht von der Kita wegverlagert werden.
Allerdings müssen gesetzliche Voraussetzungen geschaffen werden, um die verpflichtende Förderung durchsetzen zu können. Über die Änderung der Einschulungsuntersuchungen verhandelt das Kultusministerium gegenwärtig mit dem Sozialministerium. Die Finanzierung ist noch ebenso offen, wie die Frage nach genügend Räumlichkeiten und qualifiziertem Personal.
Schopper hatte bereits geäußert, dass die Finanzierung nicht vor dem Jahr 2025 stehen werde. Bisher liegt die Zuständigkeit bei den Kommunen als Kindergartenträgern. Sollte die Sprachförderung vom Land als Pflicht verlangt werden, stellt sich den Kommunen die Frage der Kostenübernahme.
Beim IQB-Bildungstrend von 2021 hatten in Baden-Württemberg 19,1 Prozent der Grundschulkinder im Lesen und beim Zuhören sogar 28 Prozent die Mindeststandards nicht erreicht. Renate Allgöwer

Wenn Sabine Pfeiffer darüber spricht, was der Wandel der Arbeitswelt für beruflich Qualifizierte bedeutet, blickt sie nicht aus einem Elfenbeinturm. Pfeiffer selbst verließ nach der zehnten Klasse das Gymnasium, um sich als Werkzeugmacherin ausbilden zu lassen. “Der Beruf war damals sehr modern und zukunftsträchtig”, erzählt Pfeiffer, die heute Professorin für Soziologie an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen-Nürnberg ist. Abitur und Studium seien in den Achtzigerjahren eher noch die Ausnahme gewesen.
Überall in den Betrieben kam gerade die computergestützte Maschinensteuerung an, die CNC-Technik. Das fand Pfeiffer sehr spannend. In der Schule rieten ihr Lehrkräfte jedoch von der Ausbildung ab. Sie fanden es nicht angemessen für ein Mädchen, “in die Fabrik” zu gehen. “Lehrkräfte an Gymnasien haben bis heute oft wenig Vorstellungen davon, wie es in einem produzierenden Unternehmen aussieht“, sagt Pfeiffer.
Nach ihrer Ausbildung arbeitet Pfeiffer fast zehn Jahre im technischen Bereich für Maschinenbau-, Automobil- und IT-Firmen, dann studiert sie Produktionstechnik. Vom Fachhochschulstudium ist sie enttäuscht: “Es war wenig praxisnah und nicht aktuell”, erinnert sie sich. “Es wurden zum Beispiel DIN-Normen unterrichtet, die es schon seit drei Jahren nicht mehr gab.” Auch intellektuell fühlt sie sich unterfordert.
Mit 27 Jahren beginnt Pfeiffer ein Soziologiestudium, das sie 1998 mit einer Magisterarbeit über Internetarbeit abschließt. Fünf Jahre später promoviert sie zum Thema “Arbeitsvermögen“. Weitere sechs Jahre später folgt die Habilitation. Thema: “Hunger in der Überflussgesellschaft.” Seit 2018 hat Pfeiffer den Lehrstuhl für Arbeit, Soziologie und Technik an der Uni Nürnberg und ist weiterhin vielseitig interessiert. So ließ sie sich etwa zum Master in den Organisationsmethoden Scrum und OKR zertifizieren. Und: Vor kurzem machte sie einen Eselführerschein.
Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist die Zukunft der Arbeit und der Berufsbildung. Dabei forscht sie in Projekten, gefördert durch das BMBF, das Wirtschaftsministerium Baden-Württemberg oder etwa durch den Nachhaltigkeitsbeirat der Volkswagen AG. Für die IG Metall befragte Pfeiffer Ausbilder aus der Metall- und Elektrobranche, wie sie auf die Digitalisierung reagieren.
An der beruflichen Bildung schätzt die Soziologin ihre Praxisnähe. Ständig würden Berufsbilder aktualisiert und an die Arbeitsrealität angepasst, berichtet sie. Als zum Beispiel klar wurde, dass reine Mechatroniker in vielen Industriebetrieben allein nicht mehr ausreichen und es Spezialisten für IT-Wissen und Prozesskenntnis braucht, entwickelte die Branche innerhalb weniger Monate den Beruf des Produktionstechnologen, seit 2008 gibt es ihn.
Mittlerweile gebe es für die Betriebe in vielen Ausbildungs-Curricula zudem mehr Freiräume als früher, Azubis nach den eigenen Bedürfnissen in bestimmten Themen auszubilden. Allerdings, betont Pfeiffer, gelingt das nur gut, wenn die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen in den Unternehmen eng mit den Ausbilderinnen und Ausbildern zusammenarbeiten. “Ungefähr ein Drittel der Betriebe im Bereich Metall und Elektro macht das bereits vorbildlich.” Leider gebe es aber noch viele Betriebe, die Forschung und Ausbildung gar nicht oder nur unzureichend miteinander verzahnen.
Pfeiffer ist sich sicher: Von ihrer Berufserfahrung in der Technik profitiert sie als Professorin noch heute. Zum Beispiel könne sie in der Debatte über Industrie 4.0 sehr gut zwischen Hype und tatsächlich wichtigen Veränderungen unterscheiden. Ihre praktischen Erfahrungen würden sie auch als Soziologin besser machen.
Was es noch zu tun gibt? Pfeiffer findet unfair, dass heute jemand mit Berufsausbildung erst noch einen Meister machen muss, um eine ähnliche Qualifikation zu erlangen wie jemand mit Bachelorabschluss. “Menschen mit einer Ausbildung bringen jede Menge Berufserfahrung und einen ordentlichen Rucksack an Fachwissen mit”, betont die Soziologin. “Trotzdem wird das Akademische immer als höher betrachtet.” Das hält Pfeiffer für eine “dramatische gesamtgesellschaftliche Fehleinschätzung“. Sarah Kröger
Research.Table: Exist: Strukturelle Förderung vor dem Aus: Der Bund will offenbar seine Förderung im Bereich der Gründungen aus der Wissenschaft kürzen. Die strukturelle Exist-Förderung für Hochschulen durch das BMWK läuft aus. Nur wenige Leuchttürme sollen bleiben. Parallel endet ein BMBF-Start-up-Programm für HAWs. In einigen Regionen werden damit bis zu 80 Prozent der Mittel für Gründungsunterstützung wegbrechen. Mehr
Research.Table: Mit Energy Earthshots zu sauberer Energie: Geraldine Richmond ist Under Secretary for Science and Innovation im Department of Energy (DOE). Mit Investitionen in Forschung und Entwicklung möchte sie die ehrgeizigen Ziele der Regierung Biden erreichen und die USA CO₂-neutral machen. Mehr
10. Mai 2023, 18:00 bis 19:30 Uhr, online
Fachgespräch Lehrerbildung: Core practices als Konzept einer praxisbasierten Lehrkräftebildung
Die Unis Dresden, Hannover, Münster und Tübingen beschäftigen sich in dieser Veranstaltungsreihe mit verschiedenen Aspekten der Lehrerbildung. Hier sprechen Urban Fraefel (PHNW), Falk Scheidig (RUB) und Marco Galle (PH Luzern) über die Rolle von Grundpraktiken in der Lehrerbildung. INFOS & ANMELDUNG
11. Mai 2023, Berlin
Studienvorstellung: Schule im Brennpunkt
Anlässlich der Feierlichkeiten zum zehnjährigen Bestehen der Wübben-Stiftung präsentiert diese die Ergebnisse einer Befragung von Schulen im Brennpunkt. Die Stiftung will systematisch ergründen, was diese Schulen ausmacht und mit welchen Herausforderungen sie zu kämpfen haben. INFOS & ANMELDUNG
16. Mai 2023, 15:15 bis 16:45 Uhr, Leipzig
Vortrag: Digitalisierung in der Sonderpädagogik
Dieser Vortrag handelt von der sonderpädagogischen Diagnostik und Gestaltung von Förderprozessen im Zusammenhang mit der Digitalisierung der Bildungslandschaft. Neben einer allgemeinen Einführung zur Digitalisierung in der Sonderpädagogik geht es auch um deren Bedeutung für den diagnostischen Prozess. INFOS & ANMELDUNG
16. Mai 2023, 16:15 bis 17:45 Uhr, online
Munich Lectures: Making Education Research Relevant to Those Who Educate
Im Zuge der Vortragsreihe International Munich Lectures in Teacher Education Research sprechen internationale Spitzenforscher über Entwicklungen der aktuellen Lehrerbildungsforschung. Den Auftakt macht Prof. David B. Daniel (James Madison University). INFOS & ANMELDUNG
22. Mai 2023, 13:30 bis 14:30 Uhr, online
SWK Talks: Datenbasierte Schulentwicklung ermöglichen
Im Rahmen der SWK Talks diskutieren deren Mitglieder mit Vertretern aus Politik und Praxis darüber, wie Perspektiven für die Grundschule geschaffen werden können. In der sechsten Folge sind Daniel Hager-Mann und Johanna Börsch-Supan zu Gast und sprechen über datenbasierte Schulentwicklung. INFOS & ANMELDUNG
23. Mai 2023, 12:30 bis 13:30 Uhr, online
Fachveranstaltung: Backstage Bildung
Julian Schmitz (Uni Leipzig) präsentiert aktuelle empirische Daten zur psychosozialen Belastung von Kindern und Jugendlichen. Zudem spricht er über die Wechselwirkung von Unterrichtsmerkmalen und psychischer Gesundheit und geht auf die Bedeutung von psychosozialen Hilfsangeboten an Schulen ein. INFOS & ANMELDUNG
23. bis 25. Mai 2023, Karlsruhe
Fachmesse: LearnTec
Digitales Lernen in Schule, Hochschule und Beruf ist der Fokus der diesjährigen LearnTec. Die Messe thematisiert verschiedene Aspekte des E-Learnings: von Gamification, Virtual Reality und Mobile Learning über Diklusion, Coding und Robotik. INFOS & ANMELDUNG
24. bis 26. Mai 2023, Paris
Konferenz: RC28
Die diesjährige RC28 – die Fachmesse des Research Committee 28 on Social Stratification and Mobility – beschäftigt sich mit Bildung und sozialer Ungleichheit im Verlauf des Lebens. Keynote-Speaker sind Jutta Allmendinger und Aaron Reeves. INFOS & ANMELDUNG